Schlaflos in Seoul
möglichst auf einen
Zug leeren. So passiert es bei Geschäftsessen und Firmenfeiern häufig, dass ältere Trunkenbolde jüngere Angestellte ständig
zum Trinken auffordern. Da der Rangniedrigere das angebotene Glas nicht ablehnen darf, bleibt ihm nichts anderes übrig als
so lange zu trinken, wie es seinem Vorgesetzten gefällt. Da diese Aufforderung zum Trinken auch eine Art Gunstbeweis ist,
trinken viele junge Koreaner bis zum Umfallen oder bis ihr Chef umfällt.
Der Trinkzwang in Korea ist vielen ein Dorn im Auge. Sich den Zechgelagen zu entziehen ist jedoch schwierig. Wer nicht mitmacht,
gilt als unhöflich, ungesellig, verstockt, sauertöpfisch – als jemand, mit dem man nichts zu tun haben möchte. Das gilt für
Männer wie für Frauen gleichermaßen. Männer, die dem Alkohol nicht zusprechen, werden zudem als unmännlich verlacht. Als Joe
sich einmal von einem feuchtfröhlichen Abend mit seinen Kollegen früher verabschiedete als ihm der Rangfolge nach zustand,
bemerkte ein Kollege spitzzüngig, Joe sei eben sehr »europäisiert« – was in Korea als Synonym für egoistisch und eigenbrötlerisch
gilt. Dieser Fehler passierte ihm kein zweites Mal. Wem an seinem Job und an einem guten Verhältnis zu seinen Kollegen gelegen
ist, bleibt bis zum bitteren Ende.
Vor einiger Zeit erstritt sich eine junge Koreanerin Schmerzensgeld in Höhe von umgerechnet 24 000 Euro vor Gericht, weil ihr Vorgesetzter sie zum Trinken genötigt hatte. Dieser Vorfall war deutschen Zeitungen eine kleine
Randnotiz wert. |140| Wer die Hintergründe der koreanischen Trinkkultur nicht kennt, kann sich jedoch kaum vorstellen, wie viel Mut zu dieser Klage
gehörte. Die junge Frau lehnte sich damit gegen die Mehrheit auf und katapultierte sich ins gesellschaftliche Aus. Verblüffend
ist, dass ihr tatsächlich recht gegeben wurde. Was später aus dieser jungen Frau geworden ist, konnte ich leider nicht herausfinden.
Ich hoffe für sie, dass sie ihre 24 000 Euro gut nutzte, denn ich bin mir relativ sicher, dass sie nach diesem Rechtsstreit von keiner anderen koreanischen Firma
mehr angestellt wurde. Vermutlich nahm sie das Geld und fing damit ein neues Leben im Ausland an – etwa in den USA oder Kanada,
den Lieblingsländern der koreanischen Auswanderer.
Als die junge Koreanerin gegen den Trinkzwang klagte, griff sie nicht nur ihren Chef an, sondern auch ein Herzstück der koreanischen
Kultur. Für die meisten Koreaner ist Schnaps ein fester Bestandteil eines gelungenen Abends, bei einer Aufforderung zum Trinken
lassen sich die wenigsten lange bitten. Wie gegrilltes Fleisch und Karaoke gehört Alkohol zu jeder Feier. Einen Anlass zum
Trinken gibt es immer. Mein Koreanischlehrer Mr. Park sagte einmal: »Wenn ich gut gelaunt bin, trinke ich mit meinen Freunden Soju und gehe zum Karaoke. Wenn ich schlecht
gelaunt bin, trinke ich auch Soju und gehe zum Karaoke.«
Wer mit Koreanern Freundschaft schließen möchte, muss trinkfest sein. Nichts öffnet in Korea die Herzen schneller als ein
Glas Schnaps. Ich machte mehrmals die Erfahrung, dass Koreaner, die mir gegenüber skeptisch oder sogar abweisend waren, beim
gemeinsamen Trinken ihre Meinung plötzlich änderten und auf einmal die Freundlichkeit in Person waren. Das Schlüsselwort für
jeden Koreaaufenthalt heißt »Gunbae!« – übersetzt: »Prost!«
|141| Schwiegermütter und andere Schrecken
»Kannst du ein Lied singen? Auf Koreanisch?«, fragte mich Joes Mutter. Ich schüttelte den Kopf. Sie verlor das Interesse an
mir und fing an, mit ihrem jüngsten Enkel koreanische Kinderlieder zu singen. Sie beachtete mich nicht mehr, bis ich mich
verabschiedete und nach Hause ging.
»Von meiner Mutter hast du nichts zu erwarten«, hatte mir Joe irgendwann in dem Sommer prophezeit, bevor ich nach Korea kam.
»Selbst wenn sie dich mag, wird sie es niemals zeigen. In Korea zeigen alte Leute ihre Zuneigung nicht.« Joe vermutete, dass
ich mit seinem Vater und seinen drei älteren Schwestern keine Probleme haben würde, aber seine Mutter würde mich wahrscheinlich
links liegen lassen – und so war es auch.
Joes Mutter, eine attraktive Frau Ende fünfzig, sah ich zum ersten Mal bei der Hochzeitsfeier seiner Schwester. Ich begrüßte
sie, wie in Korea üblich, mit einer angedeuteten Verbeugung. Sie erwiderte meinen Gruß und lächelte dabei. Die erwartete Katastrophe
blieb aus. Ich war überrascht und erleichtert, wie
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