Schlaflos in Seoul
|144| sehr nett zu mir«, sagte sie. »Aber sie geben mir trotzdem ziemlich deutlich zu verstehen, dass sie kein weißes Mädchen für
ihren Sohn wollen.« Whitney und ihr Freund wollten gerne heiraten, aber seine Familie bat sie mehrmals zu warten. Sie sagten
immer wieder »nächstes Jahr«, und Whitney befürchtete, dass das »nächste Jahr« nie kommen würde.
Mein Problem mit Joes Mutter basierte eher auf dem Gegenteil. Joe eröffnete mir eines Tages, dass seine Mutter von ihm verlangte,
mit dreißig zu heiraten. »Weil du Europäerin bist und Europäer heutzutage häufig gar nicht mehr heiraten, denkt sie…«, er
vollendete den Satz nicht. »Das heißt, sie möchte, dass du mit mir Schluss machst und eine Koreanerin heiratest, oder? Hat
sie schon ein Blind Date für dich arrangiert?« Er antwortete nicht darauf.
»Koreanische Mütter« waren sicher das meistdiskutierte Thema in den Pausen zwischen dem Koreanischunterricht an der Ewha.
Wie Whitney und ich waren fast alle ausländischen Studentinnen in den oberen Semestern des Sprachprogramms mit Koreanern liiert.
Fast jede konnte eine Geschichte dazu beitragen. Die Erzählungen waren in den seltensten Fällen lustig. Da war zum Beispiel
eine junge Chinesin, die kurz vor ihrer Hochzeit mit einem Koreaner von Tag zu Tag dünner wurde und von Tag zu Tag trauriger
aussah. Sie besuchte Kurse, um koreanische Küche und Haushaltsführung zu lernen. Sie war rührend bemüht, alles richtig zu
machen, aber ihrer zukünftigen Schwiegermutter genügte es nie.
In koreanischen Seifenopern spielt die böse Schwiegermutter oft eine tragende Rolle: hartherzige ältere Damen, die die jungen,
schönen Heldinnen tyrannisieren. Die böse Schwiegermutter ist ein Topos, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Die häufigste Erklärung basiert auf der Tatsache, dass böse Schwiegermütter selbst einmal gequälte Schwiegertöchter waren
und einfach weitergeben, was sie als junge Frauen schmerzhaft gelernt haben. Traditionell verließen |145| junge Frauen in Korea nicht nur räumlich ihr Elternhaus, sondern wurden mit der Heirat auch Teil der Familie ihres Mannes.
Nach den konfuzianischen Regeln mussten sie den Eltern ihres Ehemannes dienen und deren Anweisungen ausführen – was in manchen
Fällen in bloße Schikane ausartete. Die jungen Ehefrauen lebten meist im Elternhaus des Mannes und waren aufgrund ihrer Jugend
häufig das schwächste Glied in der Familie.
Viele ältere Koreanerinnen haben qualvolle Jahre der Demütigung und der Tyrannei unter der erbarmungslosen Regentschaft einer
bösen Schwiegermutter verbracht. Endlich durch ihr fortgeschrittenes Alter zur Respektsperson geworden, nützen sie ihre neu
gewonnene Macht aus und setzen die eigenen Schwiegertöchter den gleichen Schikanen aus, unter denen sie einst selbst gelitten
haben. Dieser Gedankengang beinhaltet zwar kein Mitgefühl, aber durchaus eine gewisse Logik.
Für koreanische Mütter ist es ausgesprochen frustrierend, wenn die Freundin oder Ehefrau des Sohnes ausgerechnet eine junge
Ausländerin ist, die sich einfach nicht schikanieren lässt – die stur auf ihren eigenen Prinzipien beharrt, die keine Ahnung
von koreanischer Küche und Hausarbeit hat, die Hosen und kurze Haare trägt und so gar nicht mit dem Idealbild einer devoten
Schwiegertochter vereinbar scheint. An manchen Tagen taten mir Joes Mutter und die zukünftigen Schwiegermütter meiner Freundinnen
fast leid, weil das 21. Jahrhundert so abrupt mit der Invasion eines Heeres ausländischer Amazonen über sie hereinbrach.
Irgendwann schloss Joes Mutter mit mir Freundschaft. Entweder brauchte sie eine Weile, um sich an mich zu gewöhnen, oder sie
begann, sich für mich zu interessieren, weil ich im Fernsehen auftrat.
Eines Abends, kurz nach meinem Fernsehdebut, feierte Joes älteste Schwester ihren Geburtstag bei sich zu Hause. Auch ich wurde
zum Essen eingeladen. Ich war überrascht, als ich entdeckte |146| , dass es tatsächlich vegetarisches Essen für mich gab. Joes Schwestern fragten mich über meinen Fernsehauftritt aus. Mein
Koreanisch war inzwischen so weit fortgeschritten, dass ich eine Konversation bestreiten konnte. Ich kolportierte Klatsch
vom Fernsehsender – der bei den meisten Koreanern auf reges Interesse stößt – und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass sich
Joes Familie für etwas interessierte, das ich erzählte.
Nach dem Essen wurde Schnaps getrunken.
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