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Schlaflos in Seoul

Titel: Schlaflos in Seoul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Hohleiter
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Das gesamte Drehbuch hatte noch niemand von uns bekommen. Der Regisseur erklärte uns nicht viel. Ich beriet
     mich mit einer anderen jungen Deutschen, die für dieselben Rollen vorsprach. Auch sie war ratlos. Wir baten den Regisseur,
     uns das Drehbuch zu geben, damit wir die Geschichte und die Rollen besser verstehen konnten.
    Eine Woche später bekamen wir es. Ich las es und war immer |132| noch ratlos. Die deutschen Dialoge waren so gestelzt, dass sie selbst vor dem historischen Hintergrund des Filmes antiquiert
     und leblos wirkten. Soweit ich es beurteilen konnte, waren die koreanischen Dialoge kaum besser. Der Redeanteil der beiden
     jungen Deutschen, die in der Miniserie für den koreanischen Schriftsteller schwärmten, war etwa zur Hälfte in Deutsch und
     zur anderen Hälfte in Koreanisch. Die koreanischen Sätze waren so schwierig, dass sie mir selbst nach etlichen Monaten Sprachunterricht
     nur schwer von den Lippen kamen. Meiner Meinung nach war es wenig realistisch, dass zwei junge Deutsche, die nie einen Fuß
     nach Korea gesetzt hatten, grammatikalisch perfektes Koreanisch auf hohem Sprachniveau beherrschten. Meine Bedenken behielt
     ich für mich. Was bei dem koreanischen Publikum ankommen würde, wusste der Regisseur sicher besser – und nach dem, was ich
     im Fernsehen gesehen hatte, schien Realismus in koreanischen T V-Produktionen eine untergeordnete Rolle zu spielen.
    Wir trafen uns jeden Samstag zum Schauspieltraining, aber irgendwie schienen wir nicht von der Stelle zu kommen. Unter der
     Woche hatte ich wenig Zeit, den Text – der fast jede Woche ein bisschen umgeschrieben wurde, ohne dass sich die Qualität verbesserte
     – zu lernen. Ich konnte verstehen, dass der Regisseur von meinen Fortschritten nicht unbedingt angetan war, aber ich wusste
     auch nicht, wie ich es besser machen sollte. Für mich waren die Figuren wenig nachvollziehbar und ich fand einfach keinen
     Zugang zu ihnen. Ich fragte den Regisseur und er sagte lapidar: »Die eine Frauenfigur ist schüchtern. Und die andere ist selbstbewusst
     und frech.« Das gab mir zwar einen Anhaltspunkt und für eine erfahrene Schauspielerin wäre das vielleicht genug Information
     gewesen, aber mir half es nicht viel weiter. Als ich wissen wollte, ob ich etwas an der Betonung, an der Intonation, an der
     Mimik ändern sollte, setzte er zu einer langen Rede auf Koreanisch an, wobei er sich ständig zu wiederholen schien. Die Quintessenz
     war: »Mehr Intensität!«
    |133| Ich dachte an meinen Lieblingsfilm ›Lost in Translation‹ und die Szene, in der der alternde Schauspieler bei einem Werbespotdreh
     von dem unzufriedenen japanischen Regisseur angeschrien wird. In dem Film gibt die japanische Übersetzerin den Redeschwall
     des Regisseurs mit »Mehr Intensität!« wieder. Irritiert und leicht genervt versuchte ich, »mehr Intensität«– was auch immer
     das bedeuten mochte – in die gestelzten Dialoge zu legen, aber ich fürchtete, dass der Regisseur mit Intensität eigentlich
     Pathos meinte. Er selbst sprach kein Wort Deutsch und vielleicht war ihm einfach entgangen, wie schwulstig der deutsche Text
     ohnehin war.
    Nach der dritten Sitzung sagte ich ihm, dass ich für ein paar Tage nach Japan reisen würde – was stimmte – und für keine weiteren
     Schauspielstunden mehr zur Verfügung stand. Nach meiner Rückkehr hörte ich nichts mehr von ihm. Mein Ausflug in die koreanische
     Serienwelt war kurz – aber lang genug, um dabei zu lernen, dass auch banale Serienproduktionen harte Arbeit sind.

|134| Das Glück liegt im Schnapsglas
    Eine junge Koreanerin saß mitten auf der Straße. Ihre Freundin versuchte, ihr hochzuhelfen, aber sie war zu schwer und knallte
     wieder auf den Asphalt. Sie fing an zu weinen. Drei weitere Freundinnen redeten beruhigend auf sie ein, aber sie konnte sich
     nicht beruhigen. Irgendwann kam ein Mann, vielleicht ihr Freund oder ihr großer Bruder, nahm sie huckepack und brachte sie
     weg. Sie verlor dabei ihre Schuhe, aber sie schien es nicht mehr zu bemerken.
    »Was ist mit ihr? Ist sie krank?«, fragte ich Joe, der mit mir die Szene beobachtet hatte.
    »Nein. Nur betrunken.«
    Am Wochenende sind in Sinchon solche Szenen keine Seltenheit. In dem Studentenviertel wird wie überall in Korea viel getrunken.
     Gegen Abend sind die Straßen von Seoul voll mit betrunkenen Geschäftsmännern, betrunkenen jungen Frauen, betrunkenen Senioren   … Einige Monate lang wohnte ich gegenüber von einem Wettbüro.

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