Schlaflos in Seoul
unkompliziert der erste Kontakt war. Einige Wochen später wurde ich zum
Abendessen eingeladen.
Die Wohnung von Joes Eltern war anders als ich mir eine koreanische Wohnung vorgestellt hatte. Ich hatte mir eine Wohnung
voller traditioneller Holzmöbel ausgemalt – niedrige Tische und Sitzkissen, kunstvoll geschnitzte Schränke und Truhen, Kalligraphien
an der Wand. Stattdessen war die Wohnung in westlichem Stil eingerichtet – eine Ansammlung |142| von verschnörkelten Möbeln, riesigen gerahmten Familienfotos und religiösen Symbolen. Joes Eltern sind streng katholisch,
und so hingen an den Wänden Kruzifixe, Jesus- und Marienbilder, Bilder des Papstes und Urkunden, die offenbar eine Auszeichnung
für besondere Verdienste in der Kirchengemeinde waren.
Ich überreichte Joes Eltern Geschenke, die ich aus Berlin mitgebracht hatte. Deutschen Wein und deutsche Schokolade, eine
»Rose von Jericho« für Joes Mutter, weil ich wusste, dass sie Pflanzen mochte, für Joes geschichtsinteressierten Vater ein
Buch über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Der Abend verlief ruhig. Joes Vater zeigte mir mehrere Fotoalben,
auch die Mutter war freundlich, aber ich hatte das Gefühl, dass ich sie langweilte. Alles, wofür sie sich begeisterte – Pflanzen,
Bergsteigen, koreanische Lieder, die katholische Kirche –, interessierte mich nicht oder nur sehr wenig. Selbst wenn mein Konversationskoreanisch perfekt gewesen wäre, hätten wir
uns vermutlich nicht viel zu sagen gehabt.
»Du musst dich mit dem Vater und den Schwestern verbünden«, hatte mir meine chinesische Freundin Ting Ting geraten, als wir
kurz vor meiner Abreise nach Seoul in meiner Berliner Lieblingsbar Cocktails tranken. »Dann kann die Mutter nichts mehr sagen.«
Ting Ting erzählte von dem Mythos der bösen Schwiegermutter, der in ganz Asien bekannt sei, und fasste zusammen: »Asiatische
Mütter können ganz schön gemein sein.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass asiatische Mütter gemeiner sein sollten als europäische.
Mir fielen etliche Beispiele von deutschen Müttern ein, die mit der Freundin oder Frau ihres Sohnes im Kleinkrieg lebten.
Bei jedem Treffen mit Joes Großfamilie versuchte ich, Ting Tings Rat zu folgen. Selbst mit den Ehemännern der Schwestern und
ihren Kindern versuchte ich mich anzufreunden – was manchmal schwierig war. Bevor ich nach Korea kam, hatte ich einiges über
Konfuzianismus gelesen, angewandten Konfuzianismus |143| lernte ich aber erst in Joes Familie kennen. So waren zum Beispiel einige Familienmitglieder beleidigt, wenn ich die falsche
Höflichkeitsstufe verwendete und das Gesagte ungewollt respektlos klang.
Meine vegetarische Ernährung war lange ein großes Thema in Joes Familie. Bei jedem gemeinsamen Essen fand sich mindestens
eine Person, die mein Essverhalten kommentierte. Wenn ich erkältet war, hieß es, mein Körper sei geschwächt, weil ich kein
Fleisch esse. Wenn ich Magenschmerzen hatte, hieß es, zu viel Gemüse sei schwer verdaulich. Joes Mutter bot mir während meiner
ersten Monate in Korea bei jedem gemeinsamen Essen Fleisch an und sagte: »Probier mal, schmeckt gut.« Jedes Mal lehnte ich
höflich ab. Sie murmelte etwas auf Koreanisch, das ich nicht verstand, und schob ihrem ältesten Enkel einen Löffel Hackfleisch
in den Mund. Der Junge aß den ganzen Abend nichts als Fleisch. Nach einer Weile ging Joes Mutter dazu über, Fleisch in mein
Essen zu schmuggeln – in Form von Suppe oder koreanischen Teigtaschen, die sie selbst meisterhaft zubereitete. Zu ihrer Verärgerung
lehnte ich auch die Suppe und die Teigtaschen ab.
Joes Mutter hatte, bevor sie mich kennenlernte, noch nie mit einem Ausländer gesprochen. Sie konnte sich nicht vorstellen,
dass jemand sich in seinen Gewohnheiten und in seinem Essverhalten so sehr von ihr selbst unterscheiden konnte. Je mehr sie
sich bemühte, mich nach ihren Vorstellungen umzupolen, desto mehr frustrierte ich sie, indem ich an meinen Prinzipien festhielt.
Je mehr sie mich bedrängte, desto sturer wurde ich. Einige Monate lang vermied ich Familienessen so gut ich konnte und fand
immer wieder eine plausible Ausrede, warum ich nicht zum Essen bleiben konnte.
Meine Freundin Whitney, eine Amerikanerin, die mit mir an der Ewha studierte, hatte ein ähnliches Problem. Sie war wegen ihres
koreanischen Freundes, den sie in China kennengelernt hatte, nach Korea gekommen. »Seine Familie ist oberflächlich
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