Schlaflos in Seoul
unserer Interviews. |137| Auch er glaubte, dass Koreaner viel Alkohol trinken, um Freundschaften zu schließen. Er verwies dabei auf die unzähligen koreanischen
Trinkspiele, die dazu da seien, Hemmungen abzubauen und sich näher zu kommen. Meiner Meinung nach sollten die Trinkspiele
sicherstellen, dass man so schnell wie möglich betrunken wird. Als ich Koreaner beim Trinken beobachtete, fiel mir nämlich
auf, dass Koreaner nicht in Ruhe ein Glas Wein oder einen Cocktail trinken, sondern verschiedene Schnäpse schnell nacheinander.
Soju, der beliebteste und der billigste Alkohol in Korea, hatte früher einen Alkoholgehalt von etwa 25 Prozent. Später wurde er auf 19 Prozent verringert, weil so der quantitative Konsum gesteigert werden konnte und Soju beliebter bei Frauen wurde. Auch wenn
Soju kein hochprozentiger Schnaps ist, verursacht er wegen des hohen Anteils an Fuselölen schlimme Kopfschmerzen am nächsten
Tag. Trotz des Katers, der regelmäßig auf die Gelage folgt, ist Soju für Koreaner eine Art Nationalheiligtum. Einmal fragte
ich Joe, warum Koreaner so viel Soju trinken. Seine Antwort war denkbar einfach, wenn auch nicht gerade logisch: »Weil wir
Koreaner sind!«
Sich nur mit Soju zu betrinken, geht vielen Koreanern nicht schnell genug, deswegen wird Soju oft mit anderen Getränken gemischt.
Paekseju – ein angeblich gesundheitsfördernder Schnaps, der wörtlich übersetzt »Hundertjahreschnaps« heißt – wird manchmal
mit Soju gemischt. Das Ergebnis wird Oshipseju genannt – wörtlich übersetzt »Fünfzigjahreschnaps«. Offensichtlich hebt Soju
nicht nur die lebensverlängernde Wirkung des Paekseju auf, sondern verringert sogar die Lebenserwartung. Der Beliebtheit des
Getränks tut dies keinen Abbruch. Noch größere Popularität als der Oshipseju genießen die sogenannten Bomb Shots. Koreaner
in ausgelassener Feierstimmung kippen oft ein Schnapsglas voll Soju in ein Bier. Der Geschmack ist für die meisten westlichen
Ausländer gewöhnungsbedürftig. Mehrere Bomb Shots auf ex zu |138| trinken, ist allerdings die schnellste und effektivste Methode, um sich bei Koreanern Respekt zu verschaffen. Über koreanische
Gäste auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin wurde kolportiert, dass sie ihre Bomb Shots den lokalen Gegebenheiten
anpassten und dem klassischen Gemisch aus Bier und Soju noch den hochprozentigeren Doornkaat hinzufügten.
Warum in Korea ein Trinkverhalten, das man getrost Kampftrinken nennen kann, praktiziert wird, konnte mir niemand beantworten
– weder meine Interviewpartner, noch Joe oder meine koreanischen Freunde. Mit der Zeit entwickelte ich eine eigene These.
Ich vermutete, dass auf diese Art Stress abgebaut werden soll. Deutsche haben zwar weltweit das Image, viel und hart zu arbeiten,
aber in keiner deutschen Großstadt – und auch nicht zu meiner Zeit in New York oder Paris – waren mir so viele dauergestresste
und ausgebrannte Büroarbeiter aufgefallen wie in Seoul.
In Seoul lernen Studenten oft beinahe rund um die Uhr. Angestellte arbeiten bis spät in die Nacht. Die Menschenmassen, die
einem täglich auf der Straße begegnen, und das Zusammenleben auf engstem Raum tragen auch nicht gerade zur Entspannung bei.
Die streng hierarchisch gegliederten Familienstrukturen setzen gestresste Koreaner manchmal noch mehr unter Druck als Studium
und Arbeit. Kurz – es gibt in Seoul mehr Gründe gestresst zu sein, als dafür, entspannt sein Leben zu genießen.
Ich fand, dass meine Theorie zumindest nicht ganz falsch sein konnte. Dazu passte auch die Geschichte über eine Gruppe koreanischer
Angestellter, die das Trinken rituell in ihren Tagesablauf integriert hatte. Sie konsumierten nach Feierabend ein oder zwei
Stunden lang hochprozentige Mischgetränke, bis sie sturzbetrunken waren. Dann gingen sie nach Hause, schliefen sieben oder
acht Stunden und erschienen am nächsten Tag leicht verkatert am Arbeitsplatz. So wie manch andere |139| Angestellte vielleicht jeden Abend zum Stressabbau joggten, ertränkten ihre Kollegen ihren Frust in Soju.
Manchmal ist das heftige Trinken jedoch mit Zwang und Gruppendruck verbunden. In Korea gibt es Trinkregeln, die das hierarchische
Denken des Konfuzianismus widerspiegeln. Der Jüngere muss das Glas des Älteren füllen und darauf achten, dass es immer gefüllt
bleibt. Wenn jedoch ein Älterer einem Jüngeren ein Glas anbietet, muss der Jüngere es auch annehmen und
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