Schlaflos in Seoul
An Wochenenden strömten Scharen von älteren Herren dorthin und
wetteten auf Pferde. Einmal fand ich abends einen von ihnen unbeweglich vor meiner Haustür. Ich hielt ihn zuerst für tot,
hörte dann aber Atemgeräusche. Ein durchdringender Alkoholgeruch stieg mir in die Nase. Vermutlich hatte er beim Pferderennen
viel Geld verloren und seinen Frust in Soju – dem Lieblingsschnaps der Koreaner – ertränkt.
In Korea sind Trunkenbolde gegenüber Abstinenzlern deutlich in der Überzahl. Einmal tauchte ein Artikel im Internet auf, |135| der besagte, dass im Jahr 2006 der Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol in Südkorea bei 25,3 Litern lag. Damit verzeichnete Südkorea weltweit den höchsten Alkoholkonsum – noch vor Russland. Im ebenfalls als trinkfreudig
geltenden Deutschland wurden im gleichen Zeitraum laut dieser Statistik nur 5,7 Liter pro Person konsumiert. Wer noch nie mit Koreanern zu tun hatte, mag diese Zahlen kaum glauben. Schließlich lautet ein
gängiges Klischee, dass Asiaten Alkohol weder vertragen noch mögen. Asiaten sind aber nicht alle gleich – und Koreaner kennen
beim Alkoholkonsum weder Zurückhaltung noch Hemmungen. Korea verfügt über eine ausgeprägte Trinkkultur.
Das Alkoholtrinken gewöhnen sich viele Koreaner während ihrer Studienzeit an. Die Begrüßungsfeier für die Erstsemester beinhaltet
einen Initiationsritus der besonderen Art.
»Ein älterer Student brachte eine Bratpfanne, die mit Alkohol gefüllt wurde. Ein Erstsemester wurde nach vorne gerufen und
musste die Bratpfanne voll Alkohol austrinken. Dann wurde wieder aufgefüllt und der nächste Student kam an die Reihe. Das
ging immer so weiter. Irgendwann war ich dran«, erzählte mir Philia, die koreanische Frau meines Freundes Arnaud. »Ich hatte
bis zu diesem Tag noch nie Alkohol getrunken und ich wollte eigentlich auch gar nichts trinken, aber der Gruppendruck war
einfach zu stark.«
Philia trank die Bratpfanne aus. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was danach passierte. Sie wusste nur aus Erzählungen,
dass jemand ihren älteren Bruder anrief, der sie von der Feier abholte. Schon während der Autofahrt musste Philia sich mehrmals
am Straßenrand übergeben, und als er sie in ihre Wohnung hochtrug, übergab sich sie sich auf jedem Treppenabsatz.
»Danach war ich während meiner Studienzeit jedes Wochenende betrunken«, erzählte sie. »Ich hatte jeden Sonntag einen Kater
und war zu nichts zu gebrauchen. Irgendwann war es mir das nicht mehr wert.« Heute trinkt Philia fast keinen Alkohol |136| mehr – und ist die einzige koreanische Abstinenzlerin, die ich kenne.
Die Frage, warum Koreaner so viel und so oft entgegen jeder Vernunft trinken, beschäftigte mich. Als ich in der Abschlussklasse
des Sprachprogramms an der Ewha-Universität war, schlug ich die koreanische Trinkkultur als Thema für unser gemeinsames Abschlussprojekt
vor. Meine Kommilitoninnen fanden das Thema zu eng umgrenzt und wählten schließlich koreanische Mode, Ess- und Wohnkultur
aus. Das Trinkverhalten der Koreaner sollte trotzdem zusammen mit Untersuchungen über die koreanische Esskultur behandelt
werden.
Zusammen mit Yumi aus Japan führte ich in einer traditionellen koreanischen Kneipe Interviews. Wir befragten drei ältere Herren.
Zuerst erkundigten wir uns über ihre Lieblingsalkoholsorten und ihre Trinkgewohnheiten. Dann stellte ich die entscheidende
Frage: »Ausländer in Korea stellen oft fest, dass Koreaner sehr viel mehr Alkohol trinken als andere Asiaten. Gibt es dafür
eine Erklärung?«
Unser erster Befragungsteilnehmer beantwortete die Frage mit einem Begriff, der Zuneigung, Mitgefühl oder Sympathie bedeuten
kann. Er sagte, Koreaner würden durch das gemeinsame Trinken von Alkohol ihre Sympathie füreinander ausdrücken. Mir schien
die Erklärung wenig schlüssig. Unser zweiter Interviewpartner sagte: »Koreaner sind ein sehr temperamentvolles Volk. Alle
temperamentvollen Völker auf der Welt trinken sehr viel Alkohol – Russen, Iren, Italiener … Ich glaube, da besteht ein Zusammenhang.« Ich hatte zwar gehört und auch gesehen, dass Russen und Iren viel Alkohol tranken.
Dass Italiener für übermäßigen Alkoholkonsum bekannt sind, war mir neu. Der dritte ältere Herr sagte schließlich: »Seoul ist
eine große Stadt – mit so vielen Menschen. Der Alkohol hilft, mit Fremden in Kontakt zu kommen und sich besser kennenzulernen.«
Ich erzählte Joe von den Ergebnissen
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