Schlaflos in Seoul
Wohnblocks in anderen Ländern
anhaftet, ist in Korea unbekannt. Was nicht verwundert, denn viele Wohnblocks sind Luxushochhäuser, die sauber, sicher und
schön gestaltet sind. Es gibt ein Gesetz, nach dem jedes Haus mit mehr als sechs Stockwerken – oder nach koreanischer Zählung
sieben Stockwerken, denn in Korea gilt |149| das Erdgeschoss als erster Stock – über einen Aufzug verfügen muss. Ich wohnte in einem für koreanische Verhältnisse niedrigen
Haus mit genau sieben, beziehungsweise acht Stockwerken. Es gab also einen Aufzug, den ich aber nur benutzte, wenn ich schweres
Gepäck zu transportieren hatte oder sehr müde war. Jedes Mal, wenn der Aufzug hielt, ertönte ein Klingelgeräusch. Wenn ich,
wie so häufig, nachts nicht schlafen konnte, hörte ich oft eine ganze Serie von Klingeltönen und ich vermutete, dass es mal
wieder ein Betrunkener war. So wie kleine Kinder gerne Rolltreppe fahren – rauf und runter, rauf und runter –, ohne eigentlich irgendwo hinzuwollen, hatte ich einen Hausbewohner im Verdacht, dass er nachts aus Spaß Aufzug fuhr. Vermutlich
amüsierte er sich dabei bestens, brachte mich aber um den Schlaf.
Nicht einschlafen zu können war eine Sache, nicht ausschlafen zu können eine andere. Ältere Koreaner sind fast ausnahmslos
Frühaufsteher. In Korea gilt Faulheit beinahe als Todsünde – und wer gerne lange schläft, wird in Korea eben für faul gehalten.
Das beliebteste Hobby älterer Koreaner ist Bergsteigen. Da Korea ein bergiges Land ist, gibt es – sogar in Seoul – genügend
Möglichkeiten, dieses Hobby zu praktizieren. Eine eiserne Bergsteigerregel ist offenbar, dass man bereits im Morgengrauen
aufbrechen muss. In den frühen Morgenstunden sind die U-Bahnen von Seoul nicht nur mit gestressten Büromenschen, sondern auch mit älteren Hobbybergsteigern gefüllt. So gesund dieses Hobby
für Senioren sein mag, wenn man mit ihnen Tür an Tür wohnt, erkennt man auch die Nachteile des Seniorensports.
Ich wurde jedes Mal aus dem Schlaf gerissen, wenn sich meine Nachbarn morgens um fünf Uhr auf ihre nächste Bergtour vorbereiteten.
Bevor das ältere Ehepaar aufbrach, war lautes Hantieren im Badezimmer und in der Küche zu hören, sowie Gerumpel und Geschrei
auf dem Korridor – die beiden waren offensichtlich schwerhörig, denn sie schrien sich permanent |150| an. Als sie gegen sechs Uhr das Haus verlassen hatten, versuchte ich wieder einzuschlafen. Leider war das genau die Uhrzeit,
zu der die Ajumma aus dem Nachbarhaus gerne Streitgespräche am Telefon führte. Ich fragte mich immer, wen sie zu dieser Uhrzeit
anrief: einen anderen Frühaufsteher oder jemanden in einer anderen Zeitzone? Aus Rücksicht auf ihre Familie telefonierte sie
frühmorgens nicht in der Wohnung, sondern ging auf den Dachgarten hinauf. Leider war das Nachbargebäude niedriger als das
Haus, in dem ich wohnte. Der Dachgarten des Nachbarhauses war genau auf der gleichen Höhe wie meine Wohnung. So konnte ich
die zankende Ajumma laut und deutlich hören, und sie wiederum hatte während ihres Telefonats noch eine zusätzliche Unterhaltung:
Sie konnte einen indiskreten Blick riskieren und sich davon überzeugen, dass die Ausländerin tatsächlich um sechs Uhr noch
im Bett lag.
Außer lärmenden Nachbarn gibt es in Seoul noch andere Gründe für Schlaflosigkeit. In Korea werden neue Gebäude in einer verblüffenden
Geschwindigkeit hochgezogen. Bauarbeiten, die in Deutschland ein Jahr oder länger dauernd würden, sind in Korea innerhalb
weniger Monate erledigt. Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl möglich sein kann, so schnell Häuser zu bauen. Die Antwort
fand ich eines Nachts heraus: In Korea wird im wahrsten Sinne des Wortes Tag und Nacht gearbeitet!
Es war Sommer. Tagsüber lag die Temperatur bei über dreißig Grad und auch nachts kühlte es sich kaum ab. In Korea werden diese
Nächte »die tropischen Nächte« genannt. Ich lag im Bett. Das Fenster stand offen, weil es sonst zu stickig gewesen wäre. Plötzlich
hörte ich etwas, das nach einem Bagger klang. Ich sah aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen. Als die Baggergeräusche
nicht nachließen, schloss ich das Fenster. Nach wenigen Minuten öffnete ich das Fenster wieder, weil es in der Wohnung einfach
zu heiß war. In meiner Wohnung gab es zwar eine Klimaanlage, aber sie war schon lange defekt.
Mir blieb also nichts anderes übrig, als bei offenem Fenster |151| zu schlafen. Ich
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