Schlaflos in Seoul
steckte mir Ohropax in die Ohren. Damit konnte ich den Lärm von der Baustelle zwar noch hören, aber zumindest
waren die Geräusche leicht gedämpft. Irgendwann gegen vier Uhr morgens machten die Arbeiter eine mehrstündige Pause und ich
schlief ein. Um sieben Uhr musste ich wieder aufstehen.
Einige Wochen lang ging es so weiter. Die Geräusche von Baggern, Betonmischern und Presslufthämmern waren mein Schlaflied.
Manchmal baute ich sie in meine Träume ein. Ich träumte bizarre Geschichten über Baustellen und war morgens immer leicht verwirrt.
Tagsüber war ich entsprechend gerädert, hatte dunkle Augenringe und konnte mir beim besten Willen das Gähnen nicht verkneifen.
Jedem, dem ich von meinem Unglück erzählte, fiel eine Anekdote zu nächtlichen Bauarbeiten ein – was bewies, dass meine Erfahrung
keineswegs eine Ausnahme war. Auch Straßenbauarbeiten werden in Korea bevorzugt nachts durchgeführt, damit tagsüber der Straßenverkehr
nicht behindert wird.
In Korea wird ständig irgendwo gebaut. Lärmende Nachbarn wird es auch immer geben. Man kann sich also nur an die Schlaflosigkeit
gewöhnen und das Beste daraus machen. Als ich nicht mehr wegen des Koreanischunterrichts früh aufstehen musste, sondern anfing
bei einem Radiosender für das Nachmittagsprogramm zu arbeiten, fand ich an der unfreiwilligen Nachtaktivität manchmal sogar
Gefallen. Wer schlaflos in Seoul ist, entdeckt ungeahnte Möglichkeiten. Schlafforscher sagen, wer unter Schlaflosigkeit leidet,
soll nicht im Bett bleiben und krampfhaft versuchen einzuschlafen, sondern sich eine andere Beschäftigung suchen.
Die erste Beschäftigung, die mir in den Sinn kam, war die naheliegendste: Fernsehen. Ich sah mir amerikanische Sitcoms, koreanische
Comedy Shows und mehrere Staffeln ›America’s Next Topmodel‹ in Endloswiederholungen an. Bücher und |152| Zeitschriften, die ich mir aus Deutschland mitgebracht hatte, las ich mehrmals. Englische Bücher, die in Seoul leichter zu
bekommen waren als deutsche, sorgten für Unterhaltungsnachschub. Wenn das Lesen nicht müde machte, surfte ich stundenlang
im Internet. Ich sah mir Webcam-Bilder vom Palast der Republik in Berlin an, las die Online-Versionen deutscher und britischer
Modezeitschriften, sah mir Schuhe an, die es in Korea nicht zu kaufen gab, und erkundigte mich, wie viel der Versand nach
Korea wohl kosten würde. Es gab natürlich auch noch die Option, sich die Nächte in Bars und Clubs um die Ohren zu schlagen.
Eigentlich waren das die gleichen Aktivitäten, die mir auch in Berlin durch schlaflose Nächte geholfen hatten. Irgendwann
fiel mir auf, dass ich in einer asiatischen Metropole ohne Ladenschlussgesetz lebte und das Potenzial des nächtlichen Unterhaltungsprogramms
eigentlich gar nicht richtig ausschöpfte. In Korea entscheidet jeder Geschäftsinhaber selbst, wie lange er sein Geschäft öffnen
möchte. Und oft lautet die Entscheidung: vierundzwanzig Stunden!
Es gibt in Korea kleine Gemischtwarenläden, die in etwa über das Sortiment eines guten Tankstellenshops in Deutschland verfügen
und immer vierundzwanzig Stunden geöffnet haben. Billige koreanische Restaurants, kleine Kioske und Buden am Straßenrand haben
ebenfalls rund um die Uhr geöffnet. Wer mitten in der Nacht Hunger bekommt, findet immer eine Ajumma, die zu der Uhrzeit noch
Kimbap (die koreanische Version von Sushi) oder Tteokbokgi (Reiskuchen in einer scharfen Chilisoße) serviert.
Auch die meisten Supermärkte haben nachts geöffnet. Gegen Mitternacht sind nur noch wenige Kunden unterwegs. Man hat den Supermarkt
fast für sich alleine. Niemand schubst, niemand schnappt einem die letzte Ananas vor der Nase weg, niemand starrt einen an.
Nachdem ich aus der Fernsehshow bekannt war, bevorzugte ich es, nachts einzukaufen, weil es |153| tagsüber immer eine Supermarktverkäuferin oder eine Kundin gab, die sich mit mir zwischen Obst und Gemüse fotografieren lassen
wollte.
Wenn die Lebensmitteleinkäufe erledigt waren, blieb noch eine letzte nächtliche Unterhaltung: der Dongdaemun-Kleidermarkt.
In Dongdaemun findet man ein ganzes Konglomerat von Kaufhäusern, Läden und Ständen. Doota ist ein Kaufhaus, in dem die schicken
jungen Koreanerinnern ein und aus gehen. Dort kann man die neuesten Trends der internationalen und der koreanischen Mode nicht
nur kaufen, sondern auch – wenn man Zeit hat – stundenlang begutachten, weil die jungen Mädchen wie Mannequins an
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