Schlaflos in Seoul
– ohne mich von der untersten Stufe als Kaffee kochende Praktikantin
nach oben zu arbeiten. Beim koreanischen Radio war man begeistert von meinen Sprachkenntnissen und stellte mich sofort ein.
Ich war nicht die einzige Deutsche, die ihr Glück im Ausland suchte, und ich fragte mich, wie lange es sich Deutschland wohl
noch erlauben konnte, die Jungen und Gutausgebildeten mit schlechter Bezahlung und prekären Arbeitsverhältnissen zu vergraulen.
Dabei gibt es – darin liegt eine gewisse Ironie – in Korea ein ähnliches Problem. Abgeschreckt von den harten Arbeitsbedingungen,
den starren Hierarchien und der Vetternwirtschaft, verlassen viele junge hochgebildete Koreaner das Land, um im westlichen
Ausland noch einmal von vorne anzufangen.
In Korea konnte ich Erfahrungen sammeln, die ich in Deutschland nie gemacht hätte. Ich schrieb das Wort »Erfahrung« auf. Durch
meinen Status als Fernsehausländerin lernte ich in Seoul Menschen kennen, die mir nirgendwo anders auf der Welt begegnet wären
– oder selbst wenn wir uns über den Weg gelaufen wären, hätten wir uns wohl kaum etwas zu sagen gehabt. Ich traf exzentrische
Designer, schwermütige Diplomaten |182| und leicht neurotische Diven, drogenabhängige Schnulzensänger und egomanische Starregisseure. Mir war immer klar, dass weder
Korea noch das koreanische Showbusiness jemals meine Welt sein würden – aber es war zumindest eine Welt, deren Glanz und Elend
ich mir mit wachsender Faszination, dabei aber auch mit einer gewissen Distanz, ansah.
Meine Mindmap sah inzwischen ziemlich chaotisch aus – mit all den dahingekritzelten und den durchgestrichenen Wörtern. Ich
fügte das Wort »interessant« hinzu. Interessant ist das Leben in Korea auf jeden Fall. Jeder Tag hält neue Überraschungen
bereit. Manchmal waren diese Überraschungen angenehm – wie ein spannender neuer Job, den man von einem Tag auf den anderen
anfangen konnte. Manchmal waren sie unangenehm – wenn man beispielsweise ganz plötzlich vor die Tür gesetzt wurde und sich
in größter Eile eine neue Wohnung suchen musste. Der Alltag in Korea ist dynamisch, schrill-bunt, hektisch, aber nie monoton.
Korea kann einen an den Rand des Nervenzusammenbruchs treiben, aber es langweilt einen nie. Ich fand es faszinierend, ein
Land zu beobachten, das sich im Umbruch befindet. Das Korea, das ich kennenlernte, war nicht mehr das Land des Koreakriegs,
das Land, aus dem Hunderte Kinder zur Adoption freigegeben wurden, das Land der Olympischen Spiele von 1988 – und es war noch
nicht das Land, das es vielleicht einmal viele Jahre später werden würde und dessen Entwicklung sich erahnen ließ: ein weltoffenes,
liberales Land, vielleicht auch ein wiedervereinigtes Land.
Als Deutsche interessierte ich mich besonders für die Teilung und die mögliche Wiedervereinigung Koreas. Tatsächlich hat die
von Nordkorea ausgehende Bedrohung aber auf mein Leben in Seoul weniger Einfluss als ich anfangs gedacht hatte. Im Gespräch
mit koreanischen Freunden wurde Nordkorea selten erwähnt. Das Thema wurde meist taktvoll umgangen. Viele junge Koreaner interessieren
sich wenig für das kommunistische |183| Nachbarland. Wäre das Elend im Norden ständig präsent, wäre vermutlich der frenetische Konsumrausch im Süden nicht mehr möglich.
Zwischen Nord- und Südkorea ist die Kluft wesentlich größer als sie jemals zwischen Ost- und Westdeutschland war. Wenn das
Gespräch tatsächlich einmal auf Nordkorea kam, sprachen die meisten Koreaner mit derartiger Verachtung über den Norden, dass
eine Wiedervereinigung schon allein wegen dieser Einstellung in weite Ferne gerückt schien.
Nordkorea geistert zwar als Phantom durch die südkoreanischen Medien, hat aber auf den Alltag in Seoul kaum Auswirkungen.
So wenig es den meisten Koreanern im Süden gefällt, mit dem verhassten Norden in einem Atemzug genannt zu werden – wenn das
westliche Ausland auf Korea blickt, geht es in den meisten Fällen um die Teilung der Halbinsel und deren Konsequenzen. Das
kommunistische Nordkorea und das kapitalistische Südkorea haben bisher keinen Frieden, sondern nur einen Waffenstillstand
geschlossen. Schon allein diese Ungewissheit macht Korea zu einem Land, auf das die Welt mit großen Erwartungen blickt.
Aber nicht nur die politische Situation machte Korea für mich interessant. Unumstößliche Traditionen gibt es in Deutschland
kaum noch, die deutsche Kultur ist längst mit
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