Schlaflos in Seoul
der gesamteuropäischen verschmolzen, »typisch deutsch« gilt eher als Beleidigung,
Nationalismus ist in Deutschland – aus gutem Grund – bei weiten Teilen der Bevölkerung verpönt. Für mich ist es gleichzeitig
faszinierend und befremdlich, in einem Land zu leben, das eine ausgeprägte eigene Kultur hat und an ihr – im Guten wie im
Schlechten – verbissen festhält. So unangenehm die Auswirkungen des koreanischen Nationalismus oft sind, das Phänomen an sich
finde ich spannend zu beobachten.
Die koreanische Kultur ist in vieler Hinsicht der deutschen diametral entgegengestellt. Irgendwann kam ich zu dem Schluss,
dass diese Gegensätzlichkeit zwar den Reiz darstellte, |184| aber eine komplette Anpassung für mich unmöglich machte. Ich konnte nicht alles, was ich als Kind in Deutschland gelernt hatte,
einfach über Bord werfen, nur weil man in Korea der Meinung war, dass das Gegenteil richtig ist. Im Grunde genommen ging es
gar nicht um richtig oder falsch oder um die Überlegenheit oder die Unterlegenheit der einen oder der anderen Kultur. Ich
akzeptierte Koreas Eigenheiten und gewöhnte mich mit der Zeit an die charmante Dreistigkeit und die derbe Liebenswürdigkeit
der Koreaner. Nur war mir immer klar, dass Korea für mich – und für alle Ausländer, die ich kannte – rätselhaft und unergründlich
bleiben würde. Es war das Land, in dem wir lebten, zu dem wir aber dennoch nur begrenzten Zugang hatten – ein Land, das wir
von außen beobachten, betrachten und beschreiben konnten, das wir in seiner ganzen Tiefe aber vermutlich nie verstehen würden.
|185| Das Grace-Kelly-Syndrom
Als die amerikanische Schauspielerin Grace Kelly 1956 den jungen monegassischen Fürsten Rainier heiratete, hielten viele ihren
Umzug nach Monaco für das märchenhafte Happy End einer Bilderbuchromanze. Doch angeblich hatte die junge Fürstin in ihren
ersten Jahren furchtbares Heimweh, weinte viel, verbrachte die meiste Zeit mit Briefeschreiben und Telefonaten nach Amerika,
ließ sich Möbel und andere Gegenstände aus Übersee kommen, um sich in Monaco heimischer zu fühlen.
So behauptet es zumindest eine ziemlich reißerische Biografie über Grace Kelly, die mir vor Jahren in die Hände gefallen ist.
Ob die Darstellungen der Wahrheit entsprechen oder Dichtung eines effekthascherischen Biografen sind, die beschriebenen Symptome
klingen doch nach etwas, das heute Kulturschock genannt wird.
Über dieses Phänomen wurde inzwischen viel geforscht und geschrieben. Wissenschaftlich gesehen werden vier Phasen des Kulturschocks
unterschieden. In der ersten empfindet der Neuankömmling in seinem Gastland eine uneingeschränkte Begeisterung für die fremde
Kultur und das Leben im Ausland. In dem neuen Land gibt es viel Neues zu entdecken. Alles wirkt exotisch, interessant, abenteuerlich
und spannend. Da das Wissen über das Gastland und dessen soziale Strukturen in dieser Phase meist relativ bescheiden ist,
werden mögliche Reibungspunkte noch nicht erkannt oder als Lokalkolorit romantisch verklärt.
|186| Die Euphorie ebbt in der zweiten Phase ab. Erste Probleme treten auf, die meist mit Schwierigkeiten bei der Verwendung oder
dem Erlernen der Landessprache verbunden sind. Durch die Sprachprobleme und kulturellen Unterschiede entstehen erste Konfliktsituationen,
gesellschaftliche Fauxpas passieren, die als peinlich und demütigend empfunden werden. Die Bewältigung einfacher alltäglicher
Handlungen wird zum Kraftakt. Das Gefühl, Ausländer zu sein und damit außerhalb der Gesellschaft des Gastlandes zu stehen,
wird verstärkt wahrgenommen.
Wenn die negativen Erfahrungen sich häufen, kann es in Phase drei zu einer bewussten Entfremdung und Isolation vom Gastland
kommen. Viele Ausländer kapseln sich in dieser Phase ab, umgeben sich nur mit anderen Ausländern und klammern sich an das
letzte Stückchen Heimat, das ihnen übrig bleibt – das kann sich in Form von Ablehnung der lokalen Küche und Bevorzugung des
gewohnten Essens ausdrücken oder in der Fixierung auf aus der Heimat mitgebrachten Gegenständen wie Möbel, Kunstobjekte oder
Kleidungsstücke. In der dritten Phase werden oft Vergleiche zwischen dem Heimatland und dem Gastland gezogen. Das intensiv
empfundene Heimweh lässt die Erinnerungen an das Heimatland meist verzerrt erscheinen. Gegenüber dem idealisierten Bild der
Heimat wird der Alltag im Gastland meist als unfreundlich, schwer durchschaubar,
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