Schlaflos in Seoul
waren wir nicht die Einzigen, die sich in dieses
Hotel einschlichen. Eine koreanische Freundin erzählte mir später von einer Familie, die Fotos mit diesen Windmühlen herumzeigte
und behauptete, den Sommer in Holland verbracht zu haben. Meine Freundin erkannte den Hintergrund wieder, sagte aber nichts,
weil sie die befreundete Familie nicht blamieren wollte.
Durch den Ausflug nach Jeju gewann ich eine völlig neue Perspektive in Bezug auf koreanische Reisende und ihre Urlaubsfotos.
Für Koreaner sind das Reiseziel, die Sehenswürdigkeiten und die Atmosphäre des Urlaubsortes sekundär. Viel wichtiger sind
die Fotos!
|177| Warum denn Korea?
Eigentlich wollte ich nur ein Jahr in Korea bleiben und dann nach Berlin zurückgehen. Aus einem Jahr wurden schnell zwei.
Als ich nach zwei vollen Jahren in Seoul zu einer Stippvisite nach Berlin kam und nur von neuen Jobs und Schwierigkeiten mit
meinem Visum erzählte, eine Rückkehr an die Spree aber mit keinem Wort erwähnte, fragte mich eine Freundin: »Denkst du denn
nicht langsam daran zurückzukommen?« Sie fügte hinzu: »Es scheint dir in Seoul doch sowieso nicht besonders gut zu gefallen.«
Ich redete mich heraus. Ich erzählte von meiner Arbeit beim koreanischen Radio und sagte, dass Joe im Moment nicht aus Korea
weg könne. Vermutlich klang ich nicht besonders überzeugend. »Warum denn Korea?« – die Frage hakte sich in meinen Gedanken
fest und ich überlegte, was wohl die Antwort darauf war. Manchmal wusste ich es selbst nicht so recht.
Ich musste zugeben, dass man von mir häufiger negative Äußerungen über Korea zu hören bekam als positive. Allerdings empfand
ich es nie als Widerspruch, negative Aspekte anzusprechen und trotzdem weiterhin dort zu leben. Wenn man im Ausland lebt und
arbeitet, muss man Land und Leute nicht notwendigerweise lieben. Meiner Meinung nach gibt es sowieso kein Land und keine Stadt,
die einen 365 Tage im Jahr völlig zufrieden machen. Ich kenne viele Deutsche, die ständig über Deutschland schimpfen und mit ihren deutschen
Nachbarn auf Kriegsfuß leben und trotzdem weiterhin in Deutschland bleiben. Irgendwann fiel mir auch auf, dass über |178| die Anekdoten, in denen Korea als Land des Chaos, der Unberechenbarkeit und der Abstrusität vorkam, am meisten gelacht wurde
– Anekdoten, bei denen sich die Zuhausegebliebenen heimlich beglückwünschten, dass sie zu Hause geblieben waren. Für Koreas
landschaftliche Schönheit, traditionelle Musik oder moderne Kunst interessierten sich nur wenige.
Warum also Korea? Wenn ich über etwas nachdenke und zu keinem Schluss komme, schreibe ich manchmal Pro- und Kontra-Listen
oder Zettel, auf denen ich alle meine Assoziationen notiere – meine Freundin Katerina nennt diese Kritzeleien professionell
»Mindmap«. Ich beschloss, eine Mindmap zum Thema Korea zu schreiben. Die Frage »Warum denn Korea?« setzte ich in die Mitte
der Seite. Was waren die Gründe, weiterhin in Korea zu bleiben? Ich schrieb: »Joe«, unterstrich seinen Namen, kreiste ihn
ein und verzierte das Ganze mit einer Reihe von Kringeln, während ich weiter meinen Gedanken freien Lauf ließ.
Ich erinnerte mich an das Entsetzen meiner damaligen Chefin in Berlin, als ich ihr gleichzeitig meine Kündigung und meine
Korea-Pläne mitteilte. Sie fragte: »Wie lange kennen Sie diesen Mann denn schon?« Ich sagte damals: »Acht Monate!« – und versuchte,
entschlossen zu klingen. Ich dachte daran, wie ich als Teenager mit Begeisterung Simone de Beauvoirs Bücher gelesen hatte
und nach der Lektüre zu dem Schluss kam, eine Frau müsse ein selbstbestimmtes Leben führen und dürfe sich nicht nach Männern
und deren Wünschen richten.
Als ich die Bücher Jahre später wieder in die Hand nahm, war ich nicht mehr so begeistert und fand, dass es eigentlich Simone
de Beauvoir war, die sich jahrzehntelang nach den Launen eines Mannes gerichtet hatte. Aber ich war wohl kaum diejenige, die
ein Recht dazu hatte, sich über sie lustig zu machen. Ich notierte die Frage: »Kann es die moderne Frau im 21. Jahrhundert überhaupt verantworten, einem Mann hinterherzureisen?« Dann kritzelte ich als Antwort: »Ja! Warum nicht?« |179| Meiner Meinung nach bedeutet Emanzipation vor allem Wahlfreiheit – und es war eben meine freie Wahl, Joe nach Korea zu folgen.
Aber es musste doch noch einen anderen Grund außer Joe geben. Mit der Zeit hatte ich gute Freunde in Seoul gefunden. Ich schrieb
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