Schlaflos - Insomnia
Möglichkeit dazu hatte, sah ihm Mr. Pflaume, ohne ihn zu sehen, ins Gesicht und schritt direkt durch ihn hindurch. Das Gefühl, das Ralph erlebte, als der andere durch seinen Körper spazierte, war ihm durchaus vertraut; das Prickeln und Stechen, wenn das Blut wieder durch ein eingeschlafenes Glied zirkuliert. Einen Augenblick verschmolz seine Aura mit der von Mr. Pflaume, und Ralph erfuhr alles über den Mann, das es zu wissen gab, einschließlich der Träume, die er im Mutterleib gehabt hatte.
Mr. Pflaume blieb ruckartig stehen.
»Stimmt was nicht?«, fragte McGovern.
»Wahrscheinlich nicht … aber haben Sie nicht irgendwo einen Knall gehört? Wie ein Kracher oder ein Auto mit Fehlzündung?«
»Kann ich nicht sagen, aber mein Gehör ist nicht mehr, was es einmal war.« McGovern kicherte. »Aber wenn etwas hochgegangen ist, dann hoffentlich nicht in einem der Radiologie-Labors.«
»Jetzt kann ich nichts mehr hören. Wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet.« Sie gingen in Bob Polhurst’s Zimmer.
Ralph dachte: Mrs. Perrine sagte, es hätte sich wie ein Gewehrschuss angehört. Lois’ Freundin dachte, ein Käfer säße auf ihr und hätte sie gebissen. Möglicherweise nur ein
Unterschied, was die Intensität der Berührung anging, so wie Klavierspieler einen unterschiedlichen Anschlag haben. Wie auch immer, sie spüren es, wenn wir sie beeinflussen. Sie wissen vielleicht nicht, was es ist, aber spüren können sie es auf jeden Fall.
Lois nahm seine Hand und führte ihn zur Tür von Zimmer 313. Sie standen auf dem Flur und sahen zu, wie McGovern sich auf einem Konturstuhl aus Plastik am Fußende des Betts niederließ. Mindestens acht Menschen drängten sich in dem Raum, und Ralph konnte Bob Polhurst nicht deutlich erkennen, aber eines sah er: Polhurst war zwar dicht in sein Leichentuch gehüllt, aber seine Ballonschnur war noch unversehrt. Sie war schmutzig wie ein rostiges Auspuffrohr, schälte sich an manchen Stellen und war an anderen rissig … aber sie war noch unversehrt. Er drehte sich zu Lois um.
[»Diese Leute müssen vielleicht länger warten, als sie glauben.«]
Lois nickte, dann deutete sie auf die grün-goldenen Fußspuren - die Fährten des weißen Mannes. Sie führten an Zimmer 313 vorbei, sah Ralph, bogen aber ins nächste Zimmer ab - 315, das von Jimmy V.
Seite an Seite gingen er und Lois dorthin und sahen hinein. Jimmy V. hatte drei Besucher, aber derjenige, der neben dem Bett saß, hielt sich für den einzigen. Es war Faye Chapin, der müßig die beiden Stapel Grußkarten auf dem Nachttisch von Jimmy durchblätterte. Die beiden anderen waren die kleinen kahlköpfigen Ärzte, die Ralph zum ersten Mal auf der Veranda von May Lochers Haus gesehen hatte. Sie standen in ihren sauberen weißen Kitteln ernst am Fußende von Jimmys Bett, und jetzt, aus der
Nähe, konnte Ralph erkennen, dass die faltenlosen, fast identischen Gesichter ganze Welten von Charakteren ausdrückten; solche Dinge konnte man nur nicht durch ein Fernglas erkennen - oder vielleicht auch erst, wenn man ein paar Sprossen auf der Leiter der Wahrnehmung hinaufgeklettert war. Am deutlichsten sah man es in den Augen; sie waren dunkel, ohne Pupillen und von einem tiefen goldenen Funkeln erfüllt. Intelligenz und ein lebhaftes Bewusstsein strahlten daraus hervor. Ihre Auren umhüllten sie leuchtend und flammend wie die Gewänder von Kaisern …
… oder vielleicht von Zenturionen auf Staatsbesuch.
Sie sahen zu Ralph und Lois, die Händchen haltend unter der Tür standen wie Kinder, die sich in einem Märchenwald verirrt haben, und lächelten ihnen zu.
[Hallo, Frau.]
Das war Doc Nr. 1. Er hielt die Schere in der rechten Hand. Die Scherenblätter waren sehr lang, die Spitzen sahen ausgesprochen scharf aus. Doc Nr. 2 kam einen Schritt auf sie zu und führte eine komische halbe Verbeugung aus.
[Hallo, Mann. Wir haben auf euch gewartet.]
3
Ralph spürte, wie Lois seine Hand fester packte und wieder losließ, als sie entschied, dass keine unmittelbare Gefahr drohte. Sie machte einen kurzen Schritt nach vorn und sah von Doc Nr. 1 zu Doc Nr. 2 und wieder zu Nr. 1.
[»Wer seid ihr?«]
Doc Nr. 1 verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. Die langen Scherenblätter nahmen die gesamte Länge des weiß gekleideten linken Unterarms ein.
[Wir haben keine Namen, so wie die Kurzfristigen - aber du kannst uns nach den Schicksalsgöttinnen in der Geschichte nennen, die dir dieser Mann bereits erzählt hat. Dass diese Namen
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