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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sechs -, weil er nicht glauben wollte, dass die guten Jahre und schönen Zeiten (nicht zu vergessen die wenigen unschönen) auf diese klägliche und tonlose Weise zu Ende gegangen sein sollten. Ihr Radio, das auf einen lokalen Musiksender eingestellt war, spielte leise in der Ecke, und er hörte »Scarborough Fair« von Simon and Garfunkel. Sie sangen es bis zum Ende. Danach kam Wayne Newton und sang »Danke Shoen.« Er sang es bis zum Ende. Danach kam der Wetterbericht, aber bevor der Sprecher erzählen konnte, wie das Wetter an Ralph Roberts erstem Tag als Witwer werden würde, die Einzelheiten über Tiefdruckzonen und Kälte und Windböen aus Nordost, ging es Ralph schließlich in den Kopf. Die Uhr hatte aufgehört zu ticken, der Zug war angekommen, der Boxkampf war vorbei. Und sämtliche Metaphern waren zu Boden gefallen, zurück blieb nur die Frau in dem Zimmer, in dem es schließlich still geworden war. Ralph fing an zu weinen. Er war weinend in die Ecke gestolpert und hatte das Radio ausgeschaltet. Er erinnerte sich an den Sommer, als sie einen Kurs in Malen mit Fingerfarben besucht hatten, und an die Nacht, als sie ihre nackten Körper mit den Fingern bemalt hatten. Bei dieser Erinnerung
musste er noch mehr weinen. Er ging zum Fenster, lehnte den Kopf an die kalte Glasscheibe und weinte. Während dieser ersten, schrecklichen Minute der Erkenntnis wollte er nur eines: selber tot sein. Eine Schwester hörte ihn weinen und kam herein. Sie versuchte, Carolyns Puls zu messen. Ralph sagte ihr, sie sollte aufhören, sich wie eine verdammte Närrin zu benehmen. Sie kam zu Ralph herüber, und er glaubte einen Moment, sie würde versuchen, seinen Puls zu messen. Stattdessen hatte sie die Arme um ihn gelegt. Sie …
    [»Ralph? Ralph, alles in Ordnung?«]
    Er drehte sich zu Lois um und wollte ihr sagen, dass es ihm bestens ging, aber dann fiel ihm ein, dass er in diesem Stadium kaum etwas vor ihr verbergen konnte.
    [»Ich bin traurig. Zu viele Erinnerungen hier drinnen. Und keine guten.«]
    [»Ich verstehe … aber sieh nach unten, Ralph! Schau auf den Boden!«]
    Er gehorchte und riss die Augen auf. Auf dem Boden befanden sich verschiedene Fußspuren in vielen Farben, einige frisch, aber die meisten verblassten bereits zur Unsichtbarkeit. Zwei zeichneten sich deutlich vom Rest ab, sie funkelten wie Diamanten in einem Haufen stumpfer Imitationen. Ihre Farbe war leuchtend grün-golden, mit einigen winzigen roten Fleckchen darin.
    [»Sind die von denen, nach denen wir suchen, Ralph?«]
    [»Ja - die Docs sind hier.«]
    Ralph nahm Lois’ Hand - die sich sehr kalt anfühlte - und geleitete sie langsam den Flur entlang.

Kapitel 17

1
    Sie waren noch nicht weit gekommen, als etwas Seltsames und ziemlich Furchteinflößendes geschah. Einen Augenblick blutete die Welt vor ihren Augen weiß. Die Türen der Zimmer entlang des Flurs, in diesem grellweißen Dunst kaum zu erkennen, schwollen zur Größe von Toren der Verladezonen in Lagerhäusern an. Der Flur selbst schien gleichzeitig länger und höher zu werden. Ralph spürte, wie sich sein Magen hob wie damals, als er noch ein Teenager war und häufig mit der Dust-Devil-Achterbahn in Old Orchard Beach gefahren war. Er hörte Lois stöhnen, dann drückte sie seine Hand mit der Kraft der Panik.
    Das Weiß währte nur eine Sekunde, und als die Farben wieder in die Welt einströmten, wirkten sie heller und leuchtender als zuvor. Auch die normale Perspektive kam zurück, aber die Gegenstände sahen irgendwie dicker aus. Die Auren waren noch da, aber sie schienen dünner und blasser zu sein - Heiligenscheine in Pastelltönen statt Primärfarben wie aus der Spraydose. Gleichzeitig stellte Ralph fest, dass er jeden Riss und jede Pore in der Rigipswand zu seiner Linken sehen konnte … und dann wurde ihm klar, er konnte die Röhren, Leitungen, Kabel und die Isolierung hinter den Wänden sehen, wenn er wollte; er musste nur hinsehen.

    O mein Gott, dachte er. Passiert das alles wirklich? Kann das alles wirklich passieren?
    Überall waren Geräusche: gedämpfte Glocken, eine Toilettenspülung, verhaltenes Gelächter. Geräusche, die man normalerweise als Bestandteile des täglichen Lebens völlig überhörte, aber jetzt nicht. Nicht hier. Die Geräusche schienen, wie die sichtbare Realität der Gegenstände, eine außergewöhnliche sinnliche Beschaffenheit zu haben, wie dünne, einander überlappende Bogen aus Seide und Stahl.
    Aber nicht alle Geräusche waren gewöhnlich; sehr viele

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