Schlaflos - Insomnia
Schrotflintenfeuer auf den Nordflügel herniederprasselte. Ralph hatte die freie Hand an die Wand gepresst, und plötzlich erschien wie bei einem Zaubertrick ein Einschussloch zwischen dem dritten und vierten Finger.
»Steig auf, Lois! Steig auf
[sofort!«]
Sie stiegen gemeinsam auf, wurden vor Charlie Pickerings leeren Augen zu buntem Rauch … und verschwanden.
2
[»Was hast du mit ihm gemacht, Ralph? Eine Sekunde warst du verschwunden - du warst oben - und dann … dann ist er … was hast du getan?«]
Sie betrachtete Charlie Pickering mit fassungslosem Entsetzen. Er lehnte fast in derselben Haltung wie die toten Frauen im Nebenzimmer an der Wand. Vor Ralphs Augen bildete sich eine große rosa Speichelblase zwischen Pickerings Lippen, wuchs und platzte.
Er drehte sich zu Lois um, ergriff ihre Arme dicht oberhalb des Ellbogens und schuf ein Bild in seinem Geist: der Sicherungskasten im Keller seines Hauses in der Harris Avenue. Hände öffneten den Kasten und stellten rasch sämtliche Sicherungen von AN auf AUS. Er war sich nicht sicher, ob das richtig war - alles war so schnell geschehen, dass er sich überhaupt nicht sicher sein konnte -, aber er fand, dass es der Wahrheit ziemlich nahekam.
Lois riss ein wenig die Augen auf, dann nickte sie. Sie sah Pickering an, dann Ralph.
[»Er hat es selbst über sich gebracht, oder? Du hast es nicht mit Absicht getan.«]
Nun nickte Ralph, dann ertönten wieder Schreie unter ihren Füßen, die er ganz gewiss nicht mit den Ohren hörte.
[»Lois?«]
[»Ja, Ralph - sofort.«]
Er glitt mit den Händen an ihrem Arm hinab und nahm ihre Hände so, wie sie einander im Krankenhaus zu viert gehalten hatten, aber diesmal stiegen sie nicht auf, sondern sanken nach unten und verschwanden im Fußboden,
als wären die Dielen aus Wasser. Ralph sah wieder diese messerklingenähnliche Dunkelheit an seinen Augen vorübergleiten, dann befanden sie sich im Keller und sanken langsam dem schmutzigen Betonboden entgegen. Er sah Heizungsrohre im Schatten, mit einer dicken Staubschicht bedeckt, einen mit schmutziger durchsichtiger Plastikfolie abgedeckten Schneefräse, Gartengeräte an einem unscharf konturierten Zylinder, bei dem es sich wahrscheinlich um den Heißwasserboiler handelte, und Kartons an einer Backsteinwand - Suppe, Bohnen, Spagettisoße, Kaffee, Müllbeutel, Toilettenpapier. Das alles sah wie in einer Halluzination aus, nicht ganz da , und zuerst glaubte Ralph, das wäre eine weitere Nebenwirkung, weil sie auf die nächste Ebene aufgestiegen waren. Dann stellte er fest, dass nur der Rauch daran schuld war - der Keller füllte sich rapide damit.
Achtzehn oder zwanzig Personen drängten sich an einem Ende des langen, halbdunklen Raums, überwiegend Frauen. Ralph sah auch einen etwa vier Jahre alten Jungen, der sich am Knie seiner Mutter festklammerte (in Mommys Gesicht konnte man verblassende Blutergüsse sehen, die möglicherweise auf einen Unfall, wahrscheinlich aber auf Schläge zurückzuführen waren), ein ein oder zwei Jahre älteres kleines Mädchen, das das Gesicht am Bauch seiner Mutter vergrub … und er sah Helen. Sie hielt Natalie in den Armen und blies dem Kind ihren Atem ins Gesicht, als könnte sie die Luft um sie herum damit frei von Rauch halten. Nat hustete und schrie mit ersticktem, verzweifelten Schluchzen. Hinter den Frauen und Kindern konnte Ralph staubige Treppenstufen erkennen, die in die Dunkelheit emporführten.
[»Ralph? Wir müssen hinunter, richtig?«]
Er nickte, erzeugte das Blinzeln in seinem Kopf, und plötzlich hustete er ebenfalls, als er beißenden Rauch in die Lunge sog. Sie nahmen unmittelbar vor der Gruppe am Fuß der Treppe Gestalt an, aber nur der kleine Junge, der die Arme um die Knie seiner Mutter schlang, reagierte. In diesem Augenblick war Ralph überzeugt, dass er das Kind schon einmal gesehen hatte, wusste aber nicht, wo das gewesen sein könnte - der Tag am Ende des Sommers, als der Junge mit seiner Mutter im Strawford-Park Ball gespielt hatte, hätte Ralph im Augenblick nicht ferner liegen können.
»Schau mal, Mama!«, sagte der Junge und deutete hustend auf sie. »Engel!«
Im Geiste hörte Ralph Klotho sagen: Wir sind keine Engel, Ralph, und dann drängte er sich durch den immer dichteren Rauch auf Helen zu, ohne Lois’ Hand loszulassen. Seine Augen brannten und tränten bereits, und er konnte Lois husten hören. Helen sah ihn benommen an und schien ihn nicht zu erkennen - sie sah ihn an wie an jenem Tag im August, als
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