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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hätte (er hielt es für wahrscheinlicher, dass sie seiner Aura das Grinsen angesehen
hatte), hätte der Anblick des dunklen, langsam kreisenden Leichentuchs ihm dies ziemlich schnell ausgetrieben.
    [»Lois, vielleicht wäre es einfacher, wenn du ihn ausziehen würdest.«]
    [»Bitte vielmals um Entschuldigung, Ralph Roberts, aber ich gehöre nicht zu den Frauen, die ihre Unterwäsche ausziehen und auf Rennbahnen herumliegen lassen, und wenn du jemals ein Mädchen gekannt hast, das solche Sachen macht, dann hoffentlich, bevor du Carolyn kennengelernt hast. Ich wünschte nur, ich hätte eine …«]
    Das undeutliche Bild einer glänzenden Sicherheitsnadel in Ralphs Kopf.
    [»Ich nehme an, du hast auch keine, Ralph, oder?«]
    Er schüttelte den Kopf und schickte selbst ein Bild zurück: Sand, der durch ein Stundenglas rieselte.
    [»Schon gut, schon gut, ich hab verstanden. Ich denke, ich hab es so weit hingekriegt, dass es zumindest noch eine Weile hält. Du kannst dich jetzt wieder umdrehen.«]
    Das tat er. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Zauns herunter, und zwar mit müheloser Selbstsicherheit, aber ihre Aura war sichtlich blasser geworden, und Ralph konnte wieder dunkle Ringe unter ihren Augen sehen. Die Revolution der Unterbekleidung war jedoch im Keim erstickt worden, jedenfalls vorübergehend.
    Ralph zog sich hoch, schwang ein Bein über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite herunter. Es gefiel ihm, was er dabei empfand - alte, längst vergessene Erinnerungen schienen tief in seinen Knochen zu erwachen.
    [»Wir müssen bald wieder Energie tanken, Lois.«]
    Lois nickte matt: [»Ich weiß. Komm, gehen wir.«]

4
    Sie folgten der Spur über die Rennbahn, kletterten über einen zweiten Bretterzaun und stiegen dann einen von Büschen überwucherten Hang zur Neibolt Street hinunter. Ralph sah, wie Lois ihren Rock verbissen festhielt, damit der Unterrock oben blieb, während sie sich den Hang hinabquälten, und überlegte noch einmal, sie zu fragen, ob sie nicht besser dran wäre, wenn sie das verfluchte Ding einfach ausziehen würde. Aber dann beschloss er erneut, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Wenn es sie ausreichend störte, würde sie es auch ohne weitere Anregung von ihm tun.
    Ralphs größte Sorge - dass Atropos’ Spur einfach verschwinden würde - erwies sich anfangs als unbegründet. Die blassen rosa Flecken führten sie direkt zur unebenen und löchrigen Oberfläche der Neibolt Street hinunter und dann zwischen ungestrichenen Mietshäusern hindurch, die man schon vor Jahren hätte abreißen sollen. Zerrissene Wäschestücke flatterten an durchhängenden Leinen; schmutzige Kinder mit Rotznasen sahen ihnen von staubigen Vorhöfen aus nach. Ein bildhübscher etwa dreijähriger Junge mit flachsblondem Haar betrachtete sie zutiefst argwöhnisch von der Treppenstufe seiner Veranda, dann griff er sich mit einer Hand an den Schritt und zeigte ihnen mit der anderen den Stinkefinger.
    Die Neibolt Street endete als Sackgasse am alten Bahnhofsgelände, und dort verloren Ralph und Lois die Spur vorübergehend aus den Augen. Sie standen vor einem der Sägeböcke, mit denen ein uraltes, rechteckiges Kellerloch blockiert wurde - mehr war von dem alten Passagierbahnhof
nicht mehr übrig -, und ließen die Blicke über den großen Halbkreis des völlig verwilderten Brachgrundstücks schweifen. Rostrote Rangiergleise lugten unter einem Dickicht aus Sonnenblumen und Dornenranken hervor; Scherben von hundert zertrümmerten Flaschen funkelten im nachmittäglichen Sonnenlicht. Auf der Seite des alten Diesellok-Schuppens standen in greller, pinkfarbener Sprühfarbe die Worte: SUZY HAT MEIN DICKES ROHR GELUTSCHT. Diese sentimentale Botschaft stand in einem Kreis aus tanzenden Hakenkreuzen.
    Ralph: [»Zum Teufel, wohin ist er gegangen?«]
    [»Da unten, Ralph - siehst du?«]
    Sie deutete auf das, was bis 1963 die Hauptverkehrsader gebildet hatte, bis 1983 die einzige Verbindung war und heutzutage nur noch ein rostiges, unkrautüberwuchertes Gleis unter vielen war, die ins Nichts führten. Sogar die meisten Schwellen waren verschwunden; sie waren entweder von den hiesigen Pennern als Lagerfeuer verbrannt worden, oder von den Wanderarbeitern, die auf dem Weg zu den Kartoffelfeldern des Countys Aroostook, den Apfelhainen oder Fischgründen der Maritimes waren. Auf einer der wenigen verbliebenen Schwellen sah Ralph Flecken der rosa Spuren. Sie sahen frischer aus als die, denen sie in der Neibolt Street

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