Schlaflos - Insomnia
gewaltige, unerbittliche Kraft hatte ihn gefangen genommen, und sein Kopf drehte sich. Er kämpfte dagegen an, weil er merkte, dass der Neigungswinkel des Flugzeugs steiler wurde, aber es nutzte nichts.
[Ralph, sieh mich an - hab keine Angst.]
Er unternahm einen letzten Versuch, sich der Stimme zu widersetzen, konnte es aber nicht. Sein Kopf drehte sich weiter, und plötzlich sah Ralph seine Mutter vor sich, die vor fünfundzwanzig Jahren an Lungenkrebs gestorben war.
4
Bertha Roberts saß in ihrem Bugholz-Schaukelstuhl etwa fünf Fuß jenseits der Stelle, wo die rechte Seitenwand der Cherokee gewesen war, strickte und schaukelte eine Meile oder mehr über dem Boden in der Luft. Die Hausschuhe, die Ralph ihr zu ihrem fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte - mit echtem Nerzbesatz, wie albern - trug sie an den Füßen. Um die Schultern hatte sie einen rosa Schal gelegt. Ein alter politischer Anstecker - GEWINNEN MIT WILLKIE!, stand darauf - hielt den Schal zusammen.
Stimmt, dachte Ralph. Die hat sie als Schmuck getragen - das war ihr kleiner Tick. Hatte ich ganz vergessen.
Das einzig andere, das eine falsche Note anschlug (mal davon abgesehen, dass sie tot war und im Augenblick in einer Höhe von sechstausend Fuß schaukelte), war die rote Wolldecke auf ihrem Schoß. Ralph hatte seine Mutter nie stricken sehen, war sich nicht einmal sicher, ob sie es konnte, aber jetzt strickte sie trotzdem wie verrückt. Die Nadeln glänzten und blitzten, während sie zwischen den Maschen hin- und herpendelten.
[»Mutter? Mama? Bist du es wirklich?«]
Die Nadeln standen still, als sie von der scharlachroten Decke auf ihrem Schoß aufsah. Ja, es war seine Mutter - jedenfalls wie sie Ralphs Erinnerung nach ausgesehen hatte, als er Teenager war. Schmales Gesicht, hohe Gelehrtenstirn, braune Augen und ein Knoten grau melierten Haars straff im Nacken gebunden. Es war ihr kleiner Mund, der sie gemein und unnachsichtig wirken ließ … das heißt, bis sie lächelte.
[Aber, Ralph Roberts! Ich bin überrascht, dass du das überhaupt fragen musst!]
Aber das ist eigentlich keine Antwort, oder?, dachte Ralph. Er machte den Mund auf, um das zu sagen, aber dann entschied er, dass es - zumindest vorläufig - klüger sein könnte, wenn er schwieg. Ein milchiger Umriss schwebte jetzt rechts von ihr in der Luft. Er wurde vor Ralphs Augen dunkler und verfestigte sich zu dem Zeitungsständer aus Kirschholz, den er im Werkunterricht in seinem zweiten Jahr an der Derry High für sie gebastelt hatte. Er steckte voll mit Reader’s-Digest - und Life -Magazinen. Und nun löste sich der Erdboden tief unter ihr auf und
wurde zu einem Muster aus braunen und dunkelroten Quadraten, die sich, von ihrem Schaukelstuhl ausgehend, in einem Kreis ausbreiteten wie Wellen auf einem See. Ralph erkannte sofort, was es war - der Linoleumküchenboden im Haus in der Richmond Street, wo er aufgewachsen war. Zuerst konnte er den Erdboden noch darunter erkennen, die Geometrie des Farmlands, und nicht weit entfernt davon den Kenduskeag, der durch Derry floss, aber dann gewann der Fußboden an Festigkeit. Ein geisterhafter Fleck, wie ein großer Samenschopf einer Seidenpflanze, wurde zu Futzy, Mamas alter Angorakatze, die sich auf dem Fenstersims zusammengerollt hatte und die Möwen betrachtete, die über der alten Müllhalde in den Barrens kreisten. Futzy war etwa zu der Zeit gestorben, als Dean Martin und Jerry Lewis aufgehört hatten, Filme zusammen zu machen.
[Der alte Mann hatte ganz recht, mein Junge. Du hast dich nicht in langfristige Angelegenheiten einzumischen. Hör deiner Mutter aufmerksam zu und halte dich von allem fern, was dich nichts angeht. Tu jetzt, was ich dir sage.]
Hör deiner Mutter aufmerksam zu... Tu, was ich dir sage. Diese Worte fassten Bertha Roberts’ Ansichten über die Kunst und Wissenschaft der Kindererziehung ziemlich gut zusammen, nicht wahr? Ob es sich um den Befehl handelte, nach dem Essen eine Stunde zu warten, bevor man schwimmen ging, oder darauf zu achten, dass einem der alte Halsabschneider Butch Bowers nicht eine Menge verfaulte Kartoffeln unten in den Korb getan hatte, den man holen gehen sollte, der Prolog (Hör deiner Mutter zu) und der Epilog (Tu, was ich dir sage) waren stets gleich. Und
wenn man nicht auf sie hörte, und wenn man nicht tat, was sie sagte, musste man mit Mutters Zorn rechnen, und dann gnade einem Gott.
Sie hob die Nadeln auf und fing wieder an zu stricken, wobei sie die scharlachroten Maschen mit Fingern
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