Schlaflos - Insomnia
musste gebückt zu seinem Sitz gehen. Ralph hatte das Flugzeug jedoch nicht nur im Flug betreten, sondern auch stehend, und er stand noch , und zwar in der Mitte nahe hinter den beiden Sitzen des Cockpits. Der Grund für seine ungehinderte Aussicht war einfach und erschreckend: Sein Kopf ragte oben aus dem Flugzeug heraus.
Ralph sah wie in einem Albtraum das Bild seines alten Hundes Rex, der beim Fahren gern den Kopf zum Fenster hinaushielt, sodass seine zottigen Ohren im Fahrtwind flatterten. Er schloss die Augen.
Wenn ich nun falle? Wenn ich den Kopf durch das verdammte Dach strecken kann, was hindert mich dann daran, durch den Boden zu rutschen und bis auf die Erde zu fallen?
Oder möglicherweise durch den Erdboden und dann durch die Erde selbst?
Allerdings passierte das nicht, und es würde auch nichts Derartiges passieren, nicht auf dieser Ebene - er musste nur daran denken, wie mühelos sie durch die Etagen des Krankenhauses aufgestiegen waren und mit welcher Leichtigkeit sie danach auf dem Dach gestanden hatten. Wenn er sich das alles vor Augen hielt, würde ihm nichts geschehen. Ralph versuchte, sich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, und als er sich sicher war, dass er sich wieder unter Kontrolle hatte, öffnete er die Augen.
Direkt unter ihm krümmte sich die Windschutzscheibe des Flugzeugs. Dahinter die Nase und die quecksilbernen Schlieren des Propellers. Die Lichter, die er in dem Portosan gesehen hatte, waren jetzt näher.
Ralph beugte die Knie, und sein Kopf glitt mühelos durch das Dach des Cockpits. Einen Moment hatte er den Geschmack von Öl im Mund, die winzigen Härchen in seiner Nase schienen sich wie bei einem Elektroschock aufzurichten, und dann kniete er zwischen dem Piloten-und dem Copilotensitz.
Er wusste nicht, was für Empfindungen er erwartet hatte, als er Ed nach so langer Zeit und unter so seltsamen Umständen wiedersah, aber der Anfall des Bedauerns - nicht nur Mitleid, sondern Bedauern - das sich einstellte, überraschte ihn. Wie an dem Tag im Sommer 1992, als er in den Lastwagen von West Side Gardeners hineingefahren war, trug Ed ein altes T-Shirt statt eines Oxford- oder Arrow-Hemds, mit vorderer Knopfleiste und Schlaufe auf dem Rücken. Er hatte eine Menge abgenommen - fast vierzig Pfund, schätzte Ralph -, was eine außerordentliche Wirkung
hervorrief, denn er sah nicht ausgemergelt aus, sondern irgendwie heroisch, wie in einem Schauer- oder Liebesroman; Ralph wurde mit Nachdruck an Carolyns Lieblingsgedicht »The Highwayman« von Alfred Noyes erinnert. Eds Haut war weiß wie Papier, seine grünen Augen dunkel und licht zugleich ( wie Smaragde im Mondlicht, dachte Ralph) hinter der kleinen, runden John-Lennon-Brille, seine Lippen so rot, als hätte er Lippenstift aufgetragen. Den weißen Seidenschal mit den japanischen Schriftzeichen hatte er sich um die Stirn gebunden, sodass die gesäumten Enden auf seinen Rücken hinunterbaumelten. Eds intelligentes, zuckendes Gesicht in den Gewitterwirbeln seiner Aura drückte schreckliches Bedauern und felsenfeste Entschlossenheit zugleich aus. Er war wunderschön - wunderschön -, und Ralph verspürte, wie sich ein schreckliches Déjà-vu-Gefühl in ihm breitmachte. Jetzt wusste er, was er an dem Tag gesehen hatte, als er zwischen Ed und den Mann von West Side Gardeners getreten war; er sah es nun wieder. Ed, der sich in einer Wirbelsturmaura verlor, von der keine Ballonschnur aufragte, wirkte wie eine unschätzbar kostbare Ming-Vase, die an eine Wand geworfen worden und zerschellt war.
Zumindest kann er mich nicht sehen, nicht auf dieser Ebene. Jedenfalls glaube ich es nicht.
Als hätte Ed auf diesen Gedanken reagiert, drehte er plötzlich den Kopf und sah Ralph direkt an. Seine Augen waren groß und von einem irren Argwohn erfüllt; die Winkel seines fein geschnittenen Mundes bebten, Speicheltropfen glänzten darauf. Ralph schrak zurück und war einen Moment überzeugt, dass er doch gesehen werden konnte, aber Ed reagierte nicht auf Ralphs plötzliche Rückwärtsbewegung.
Er warf einen misstrauischen Blick in die leere viersitzige Kabine hinter sich, als hätte er die verstohlenen Bewegungen eines blinden Passagiers gehört. Gleichzeitig griff er an Ralph vorbei und legte die rechte Hand auf einen Pappkarton, den er mit Sicherheitsgurt auf dem Sitz des Copiloten festgezurrt hatte. Die Hand strich kurz zärtlich über den Karton, dann wanderte sie zur Stirn und rückte den Seidenschal, der als Stirnband diente, etwas zurecht.
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