Schlaflos - Insomnia
Dorrance hatte gesagt
(ich würde das nicht tun)
dass Ralph ihn nicht anfassen sollte.
»Er sagte, dass er meine Hände nicht mehr sehen könnte«, murmelte Ralph und schwang die Füße aus dem Bett. »Das war es.«
Er blieb noch eine Weile sitzen, mit gesenktem Kopf, den Finger zwischen den Schenkeln gefaltet, und wild zerzaustem Haar, das in die Höhe stand. Schließlich erhob er sich und schlurfte ins Wohnzimmer. Es wurde Zeit, auf den Sonnenaufgang zu warten.
Kapitel 4
1
Obwohl sich Zyniker immer plausibler als die blauäugigen Optimisten dieser Welt anhörten, irrten sie sich nach Ralphs Erfahrung zumindest genauso oft, wenn nicht gar öfter, und er freute sich, dass McGovern sich hinsichtlich Helen Deepneau geirrt hatte - in ihrem Fall schien eine Strophe des »Gebrochenes-Herz-Prügel-Blues« auszureichen.
Am Mittwoch der darauffolgenden Woche, als Ralph sich gerade überlegt hatte, dass er besser die Frau aufspürte, von der Helen im Krankenhaus gesprochen hatte (Tillbury hieß sie, Gretchen Tillbury), um sich zu vergewissern, dass mit Helen alles in Ordnung war, bekam er einen Brief von ihr. Auf dem Absender stand einfach nur Helen und Nat, High Ridge , aber er reichte aus, Ralph sichtlich zu erleichtern. Er setzte sich in seinen Sessel auf der Veranda, riss das Ende des Umschlags auf und schüttelte zwei linierte Blätter heraus, die mit Helens schräger Handschrift vollgeschrieben waren.
Lieber Ralph [begann der Brief]
ich nehme an, inzwischen musst Du denken, dass ich doch wütend auf Dich bin, aber das bin ich wirklich nicht. Es ist nur so, dass wir die ersten paar Tage mit
niemand Verbindung aufnehmen sollen - weder telefonisch noch brieflich. Hausvorschriften. Es gefällt mir hier ausgezeichnet, und Nat ebenfalls. Logisch - es sind mindestens sechs Kinder in ihrem Alter hier, mit denen sie herumkrabbeln kann. Was mich betrifft, ich habe hier mehr Frauen kennengelernt, die wissen, was ich durchgemacht habe, als ich mir je hätte träumen lassen. Ich meine, man sieht die Fernsehsendungen - Oprah im Gespräch mit Frauen, die Männer lieben, die sie als Punchingbälle gebrauchen -, aber wenn es einem selbst passiert, dann nimmt man immer an, es passierte auf eine Weise wie keiner anderen vorher, auf eine Weise, die brandneu auf der Welt ist. Die Erleichterung darüber, dass das nicht stimmt, war das Beste, das mir seit langer, langer Zeit widerfahren ist …
Sie erzählte von den Aufgaben, die sie übertragen bekommen hatte - Gartenarbeit, Mithilfe beim Streichen eines Geräteschuppens, die Sturmläden mit Essig und Wasser abwaschen -, und von Nats Abenteuern beim Laufenlernen. Der Rest des Briefes handelte davon, was passiert war und was sie unternehmen wollte, und da spürte Ralph zum ersten Mal wirklich die emotionale Aufgewühltheit, die Helen empfinden musste, ihre Angst vor der Zukunft und, als Gegengewicht zu dem allen, die feste Entschlossenheit, das Richtige für Nat zu tun … und für sich selbst auch. Helen schien gerade herauszufinden, dass sie auch ein Anrecht hatte, das Richtige zu tun. Ralph war froh, dass sie das herausgefunden hatte, aber traurig, wenn er an die finstere Zeit dachte, die sie hatte
durchmachen müssen, um zu dieser simplen Einsicht zu kommen.
Ich werde mich von ihm scheiden lassen, [schrieb sie.] Ein Teil in mir (er hört sich an wie meine Mutter, wenn er spricht) heult lauthals auf, wenn ich es so unverblümt ausdrücke, aber ich habe es satt, mir wegen meiner Situation etwas vorzumachen. Hier finden jede Menge Therapien statt, bei denen Leute im Kreis sitzen und binnen einer Stunde vier Packungen Kleenex verbrauchen, aber alles scheint darauf hinauszulaufen, dass man seine Lage besser erkennt. In meinem Falle sieht es schlicht und einfach so aus, dass aus dem Mann, den ich geheiratet habe, ein gefährlicher Paranoiker geworden ist. Dass er manchmal liebevoll und zärtlich sein kann, ist nicht das Wesentliche, sondern lenkt nur davon ab. Ich darf nicht vergessen, dass der Mann, der mir selbst gepflückte Blumen brachte, heute manchmal auf der Veranda sitzt und mit jemandem redet, der gar nicht da ist, einem Mann, den er »den kleinen kahlköpfigen Arzt« nennt. Ist das nicht allerliebst? Ich glaube, ich weiß, wie das alles angefangen hat, Ralph, und wenn ich Dich sehe, werde ich es Dir erzählen, wenn Du es wirklich hören willst.
Mitte September dürfte ich (zumindest eine Weile) wieder in dem Haus in der Harris Avenue sein, und sei es nur, um einen Job zu
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