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Schlaflos - Insomnia

Titel: Schlaflos - Insomnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gestanden
hatte. Ed Deepneau gegenüberzutreten war nichts verglichen mit der Angst, die er in dem Augenblick verspürte, als er glaubte, Carolyn wäre tot.
    »Ich kann mich erinnern, dass sie May früher alle zwei Wochen oder so Sauerstoff brachten«, sagte McGovern. »Jetzt kommen sie jeden Montag- und Donnerstagabend, wie ein Uhrwerk. Ich gehe sie besuchen, wenn ich kann. Manchmal lese ich ihr vor - die langweiligste Frauenzeitschriftenscheiße, die du dir vorstellen kannst -, und manchmal sitzen wir nur da und reden. Sie sagt, es fühle sich an, als würde sich ihre Lunge mit Seetang füllen. Es wird nicht mehr lange dauern. Eines Tages werden sie kommen, und statt einer leeren Sauerstoffflasche werden sie May auf ihren Wagen laden. Sie werden sie ins Derry Home bringen, und das wird das Ende sein.«
    »Waren es Zigaretten?«, fragte Ralph.
    McGovern bedachte ihn mit einem Ausdruck, der dem schmalen, sanften Gesicht so fremd war, dass Ralph einige Augenblicke brauchte, bis ihm klar wurde, dass es sich um Verachtung handelte. »May Perrault hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht. Sie bezahlt hier für zwanzig Jahre Arbeit in der Färberei einer Fabrik in Corinna, und weitere zwanzig am Webstuhl einer Fabrik in Newport. Sie versucht, durch Baumwolle, Wolle und Nylon zu atmen, nicht durch Seetang.«
    Die beiden jungen Männer von Derry Medical Services stiegen in ihren Kleinbus ein und fuhren davon.
    »Maine ist der nordöstliche Anker der Appalachen, Ralph - das ist vielen Leuten nicht klar, aber es stimmt - und May stirbt an einer typischen Appalachenkrankheit. Die Ärzte nennen sie Textillunge.«

    »Eine Schande. Ich glaube, sie bedeutet dir viel.«
    McGovern lachte reumütig. »Nee. Ich besuche sie, weil sie das letzte sichtbare Überbleibsel meiner vergeudeten Jugend ist. Manchmal lese ich ihr vor, und ich bringe es immer fertig, einen oder zwei ihrer trockenen alten Weizenschrotkekse runterzuwürgen, aber das ist auch schon alles. Ich versichere dir, mein Mitgefühl ist selbstredend selbstsüchtiger Natur.«
    Selbstredend selbstsüchtig, dachte Ralph. Was für ein wirklich seltsamer Ausdruck. Was für ein typischer McGovern-Ausdruck.
    »Vergessen wir May«, sagte McGovern. »Die Frage, die Amerikanern allerorten unter den Nägeln brennt, ist die: Was sollen wir deinetwegen unternehmen, Ralph? Der Whiskey hat nicht funktioniert, was?«
    »Nein«, sagte Ralph. »Leider nicht.«
    »Hast du dir auch einen ordentlichen Schuss genehmigt?«
    Ralph nickte.
    »Nun, etwas musst du gegen die Tränensäcke unter den Augen unternehmen, sonst wirst du nie bei der reizenden Lois landen.« McGovern studierte Ralphs Mienenspiel darauf und seufzte. »Nicht besonders komisch, hm?«
    »Nee. Es war ein langer Tag.«
    »Entschuldige.«
    »Ist in Ordnung.«
    Sie blieben eine Zeit lang in behaglichem Schweigen sitzen und betrachteten das Kommen und Gehen in ihrem Abschnitt der Harris Avenue. Drei kleine Mädchen spielten auf der anderen Straßenseite Hüpfkästchen auf dem
Parkplatz vor dem Red Apple. Mrs. Perrine stand aufrecht wie ein Wachtposten in der Nähe und beobachtete sie. Ein Junge, der seine Red-Sox-Baseballmütze verkehrt herum aufgesetzt hatte, ging vorbei und wippte zur Musik seines Walkmans. Zwei Kinder warfen vor Lois’ Haus einen Frisbee hin und her. Ein Hund bellte. Irgendwo rief eine Frau, dass Sam sich seine Schwester schnappen und hereinkommen sollte. Die übliche Serenade des Straßenlebens, nicht mehr und nicht weniger, aber Ralph kam alles seltsam falsch vor. Er vermutete, es lag daran, dass er sich in letzter Zeit so sehr daran gewöhnt hatte, die Harris Avenue verlassen zu sehen.
    Er drehte sich zu McGovern um und sagte: »Weißt du, was ich als Erstes dachte, als ich dich heute Nachmittag auf dem Parkplatz des Red Apple gesehen habe? Obwohl so viel los war?«
    McGovern schüttelte den Kopf.
    »Ich habe mich gefragt, wo zum Teufel dein Hut abgeblieben ist. Der Panama. Ohne ihn bist du mir ziemlich seltsam vorgekommen. Fast nackt. Also rück raus damit - wo hast du ihn gelassen, Junge?«
    McGovern berührte seinen Kopf, wo die verbliebenen Strähnen seines feinen weißen Babyhaars sorgsam von links nach rechts über den rosa Schädel gekämmt waren. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich habe ihn heute Morgen vermisst. Ich denke fast immer daran, ihn auf den Tisch neben der Eingangstür zu legen, wenn ich reinkomme, aber dort ist er nicht. Ich vermute, ich habe ihn diesmal anderswo

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