Schlafwandler
allem, er hatte ausgezeichnete
Beweise. Zwei Dutzend Kisten mit Mustern. Zwei Aktenschränke
mit Berichten. Filme. Fotos. Die Hölle von Sachsenhausen war
niedergeschriebene Geschichte. Jetzt musste nur noch die Welt davon
erfahren.
Als sie über die
Havel zurücksegelten, sah Kraus keinen Grund, Gustave daran zu
hindern, die widerwärtigen Wissenschaftler aus ihrer
hypnotischen Trance zu erwecken und sie mit seiner Wut zu
konfrontieren. »Sie, Schumann!« Das Gesicht des
Meisters bebte. »Und Sie, Mengele!« Gustave hielt ein
Glas mit menschlichen Hirnen hoch. »Sie haben doch der Welt
angeblich so viel zu bieten … Wie konnten Sie das
tun?«
Selbst in Handschellen
ließen diese Hunde sich nicht einschüchtern.
»Unsere Arbeit
bedeutet der Welt zufällig sehr viel.« Schumann
verdrehte die Augen, als würde er sich langweilen.
»Natürlich nicht Ihrer Welt. In zwölf Monaten haben
wir mehr herausgefunden, als die meisten Wissenschaftler in ihrem
ganzen Leben erforschen.«
»So viel Leid!
Soviel Tod! Wer gibt Ihnen das Recht, Gott zu
spielen?«
Mengele fletschte die
Zähne. »Sie glauben, Sie können uns aufhalten? Wir
bauen einfach größere Lager, das werden Sie schon sehen.
Weit effizientere. In ganz Europa. Die Zeit ist näher, als Sie
glauben, Gustave. Wir Deutsche waren viel zu lange
weich.«
Als sie in Spandau
anlegten, schwoll Kraus vor Stolz die Brust, als er den gesamten,
verkommenen Haufen in einen Armeelastwagen packte, der sie in die
Strafanstalt Moabit mit ihren berühmten, unüberwindlichen
Mauern chauffierte. Hoffentlich werden sie nie wieder auf Menschen
losgelassen, betete er. Was er mit den Beweisen anfangen sollte,
stand jedoch auf einem anderen Blatt. Eigentlich hätte er sie
gern auf von Schleichers Schreibtisch geknallt. »Hier –
zeigen Sie das der Welt!« Aber er wusste aus Erfahrung, dass
eine derartige Masse an Beweisen nur überwältigen
würde, es sei denn, sie wurde gesammelt, sortiert und
katalogisiert. Der logische Ort für eine solche Arbeit war das
Polizeipräsidium, nur wagte er es nicht, dorthin zu fahren. Er
hätte alles in seine Wohnung gebracht, aber dort war nicht
Platz genug. Also brachte er es zum Haus von Fritz. Die schmutzigen
Militärlastwagen wirkten vor dem eleganten Glashaus vollkommen
deplaziert. »Was soll das sein, eine Invasion?«, meinte
Fritz lachend, als er sie sah. Doch nach einem Blick auf den Inhalt
der Wagen half er ihnen mit seinem gesunden Arm, die Sachen ins
Haus zu schleppen.
Anderthalb Tage lang
saßen die beiden Männer auf dem weißen Sofa unter
den Gemälden von Klee und Modigliani und sortierten die
grausigen Funde. Als ihnen klar wurde, dass es zu viel war, riefen
sie Gunther zu Hilfe. Selbst zu dritt gelang es ihnen nur, einen
Teil des Gesamtbildes zusammenzusetzen. Diese wahnsinnigen
Wissenschaftler in Sachsenhausen hatten wirklich ganze Arbeit
geleistet.
In zwölf Monaten
hatten sie Hunderte von Menschen zwangssterilisiert. Durch
Vasektomie, Kastration, Ovariotomie, tubale Ligation, Bestrahlung
… jede dieser Methoden war mit den anderen verglichen
worden. Dabei stellte sich heraus, dass die Bestrahlung mit
Röntgen, die erhoffte »Welle« der Zukunft, zu
langsam, zu teuer und zu schmerzhaft war, um sie für ein
Massensterilisationsprogramm einzusetzen. Bei Männern war die
chirurgische Kastration die effektivste Methode, denn sie war
billig und schnell. Die Ergebnisse bei den Frauen wurden noch
untersucht. Etliche Hunderte von Gefangenen waren mit allem
möglichen infiziert worden. Dann hatte man ihnen
Testmedikamente verabreicht. Ergebnis: Die Sulfonamid-Tabletten, in
die Theodor Mollbäcker so große Hoffnungen gesetzt
hatte, zeigten keinerlei antibakterielle Wirkung. Josef Mengele,
Herr Hasenzahn, hatte die grauenvollsten Experimente
durchgeführt. Auf die Rolle der Gene bei der Abstammung
fixiert, hatte er vier Zwillingspaare und fünf Zwerge
anästhesiert, sie dann bei lebendigem Leib seziert und ihre
Organe fotografiert und beschrieben. Oscar Schumanns Arbeit hatte
die fundiertesten Ergebnisse erzielt. Von siebenundzwanzig Bein-
und Armtransplantationen, die er in etwas über zwei Monaten
durchgeführt hatte, waren bis auf sieben alle erfolgreich
verlaufen. In Zukunft würde Knochentransplantation, so
Schumann, ein Routineeingriff sein.
Nach den
Schätzungen der beiden Männer waren mindestens
achthundertfünfzig Männer, Frauen und sogar Kinder Opfer
medizinischer Experimente in Sachsenhausen geworden. Kein
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