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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Einziger
von ihnen hatte sie überlebt. Über jeden Toten war jedoch
Buch geführt worden. Sie waren »dem Typhus
erlegen« oder »an Strahlungsverbrennungen
gestorben«. Und in einer Schreibtischschublade fanden sie
einen Lieferschein, dem zufolge zwei weitere Transporte von siebzig
Anstaltsinsassen in der folgenden Woche erwartet
wurden.    
    Fritz hatte vor, die
Titelseiten der Zeitungen damit zu pflastern und es beim Namen zu
nennen: »Das schlimmste Verbrechen der deutschen Geschichte.
Achthundertfünfzig Opfer gefoltert und
ermordet!«
    »In
vierundzwanzig Stunden wird die NSDAP vor Schande vollkommen
auseinanderbrechen«, behauptete er.
    Nur konnte Kraus das
nicht zulassen. Als Bedingung dafür, dass er die Hilfe der
Garnison von Potsdam in Anspruch hatte nehmen können, hatte er
von Schleicher versprechen müssen, dass sämtliche Beweise
für die medizinischen Verbrechen der SS bei ihm auf dem
Schreibtisch landen würden.
    Am Freitagnachmittag
lieferten Kraus und Fritz persönlich einen zehnseitigen
Bericht und eine Kiste mit Beweisen in der Reichskanzlei ab.
Nachdem von Schleicher die Seiten überflogen und den Inhalt
der Gläser betrachtet hatte, wurde er grün im
Gesicht.
    »Es ist absolut
unfassbar. Jenseits aller menschlichen
Vorstellungskraft.«
    »Ganz offenbar
nicht«, widersprach Kraus.
    »Bringen Sie
alles zu von Hindenburg«, verlangte Fritz. »Erwirken
sie eine Verordnung von ihm. Er soll die Nazis
verbieten.«
    Von Schleicher musste
sich am Schreibtisch festhalten. »Das kann ich nicht. Von
Papen hat den Alten so gegen mich aufgebracht, dass ich mich dem
Präsidentenpalais nicht einmal nähern kann. Nein, in
dieser Hinsicht sind mir die Hände gebunden.«
    Die Hände
gebunden? Kraus sackte der Magen in die Kniekehlen. Von
Schleicher?
    »Aber sicher
wird etwas dieser Größenordnung
…«
    »Hören Sie
mir zu, beide.« Das Gesicht des Reichskanzlers war starr wie
eine Totenmaske. »Wenn ich etwas in diesem verdammten Amt
gelernt habe, dann ist es, dass Politik bedeutet, den richtigen
Zeitpunkt für das richtige Handeln abzupassen. Ich
möchte, dass Sie mir alles bringen, was sie gefunden haben.
Verstehen Sie? Behalten Sie nichts zurück! Wenn der Moment
gekommen ist, wird die Axt des Henkers fallen.«
    »Wer
weiß«, Fritz versuchte sich in Optimismus, als sie die
Reichskanzlei verließen. »Vielleicht weiß der
Mann diesmal ja wirklich, was er tut. Komm, ich lade dich zum
Abendessen ein.«
    Aber Kraus war der
Appetit vergangen.
    Später am Abend
rief Fritz ihn an und nervte ihn ausgerechnet mit einer
Frau.
    »Weißt du
noch, Willi, die Frau, von der ich sagte, dass sie perfekt für
dich wäre …? Du wirst es nicht glauben. Ich bin ihr
gerade auf dem Ku’damm begegnet. Sie kommt morgen mit mir auf
den Presseball, als mein Gast. Du musst auch kommen, versprochen?
Hast du eine weiße Fliege und einen Frack?«
    Kraus hatte
ungefähr soviel Lust auf den Presseball wie auf einen Besuch
beim Zahnarzt, aber am nächsten Abend zog er gehorsam lange,
schwarze Socken an und befestigte sie an den Wadenhaltern. Es war
bitterkalt draußen, das sagte ihm ein Blick aus dem Fenster,
während er in seine gestreifte Seidenhose stieg. Der Wind
schlug die Oberleitungen der elektrischen Straßenbahn heftig
zusammen. Jetzt, nachdem er seine Lungenentzündung
überwunden, Sachsenhausen geschlossen und die Beweise allesamt
in die Reichskanzlei gebracht hatte, wünschte er sich
eigentlich nur ein bisschen Schlaf. Er schlüpfte in die
Lacklederslipper mit den Schleifchen. Er vermisste seine
Söhne. Und Paula. Er schnappte sich das alberne Hemd mit den
riesigen, französischen Manschetten und ärgerte sich,
dass er Fritz’ Einladung angenommen hatte.
    Der Presseball war
nicht einfach eine Feier, sondern der absolute Höhepunkt der
Berliner Gesellschaftssaison. In den Bankettsälen des
Zoologischen Gartens floss der Champagner in Strömen.
Chinchilla-Stolas und Reiherfedern kitzelten seine Nase, als er
sich an Damen der Gesellschaft und Filmstars vorbeizwängte, an
Staatsministern und Mitgliedern des Parlaments. Alle, deren
Gesichter Kraus jemals in den Nachrichten gesehen hatte,
einschließlich des Führers des Ringvereins – das
waren die Anführer der berüchtigten Verbrechersyndikate
Berlins –, soffen wie die Löcher und diskutierten sich
die Köpfe heiß.
    Schließlich
erreichte Kraus die Empore mit den reservierten Logen, wo Fritz ihm
diese Überfrau vorstellen wollte. Es gab eine Loge für
die Mosse-Presse

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