Schlafwandler
als wäre ihm ein Amboss auf den Schädel
gefallen. »Haben Sie gehört? Von Schleicher und sein
gesamtes Kabinett sind erledigt! Sie wurden zum Rücktritt
gezwungen!«
Das konnte nicht sein;
Kraus musste sich irgendwo stützen. Von Schleicher ist
abgesetzt? Das ist eine Katastrophe! Was wird aus unseren
Beweisen?
»Keine
Panik.« Fritz’ Gesicht war dunkel angelaufen.
»Wir gehen gleich morgen früh zur
Reichskanzlei.«
»Morgen ist
Sonntag.«
»Dann eben
Montag!«
Kraus glaubte nicht,
dass er so lange warten konnte. Die Musik spielte weiter, und auch
die Tänzer ließen sich nicht stören. Es war einfach
zu viel für ihn. Er hatte keine Kraft mehr dazu,
Ungerührtheit vorzutäuschen. Der Boden versank unter
seinen Füßen. Ava schien es auch zu spüren. Wer kommt nach von
Schleicher? , fragte ihr Blick.
»Komm
mit.« Kraus umfasste ihre Taille. »Verschwinden wir von
hier.« Sie gingen geradewegs zur Garderobe. Dort herrschte
ein heilloses Gedränge. Die Hälfte der Gäste ging.
»Was zum Teufel machst du überhaupt hier in
Berlin?«, zischte er ihr zu, als sie in der Reihe warteten.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht
hierherkommen.«
»Oh, hast du
das? Und ich nehme Befehle von dir an?« Ihre Augen
glühten. »Du hast uns auch gesagt, wir sollten unser
Haus und unser Geschäft verkaufen!«
»Scht!«
Er kam auf das Thema
zurück, als sie draußen waren. »Dein Vater
hätte kommen sollen.«
»Er ist
hier.« Sie schlug in dem kalten Wind den Kragen hoch.
»Und ich auch, damit er nicht allein ist. Es steht dir nicht
zu, mich zu kritisieren. Schließlich habe ich mich nicht
heimlich aus einem Krankenhaus gestohlen …«
»Ich konnte
nicht anders, Ava. Es gab etwas zu erledigen. Etwas sehr
Wichtiges.«
»Ach ja. Bei dir
gibt es immer irgendetwas Wichtiges. Die Arbeit ist wichtiger als
das Leben, stimmt’s? Du denkst nicht an deine Gesundheit.
Oder an deine Familie!«
Kraus hörte sie
kaum. Er konnte nur daran denken, dass von Schleicher
zurückgetreten war und diese Kisten mit den Beweisen in seinem
Büro standen. Der Wind frischte auf, als ein Taxi neben ihnen
hielt. Ava stieg ein und warf ihm einen gereizten Blick zu.
Plötzlich überkam ihn der Wunsch, sie in den Arm zu
nehmen, sie an sich zu drücken und sie zu küssen. Aber
sie schlug die Tür zu und ließ ihn in der eiskalten
Nacht stehen.
NEUNUNDZWANZIG
Am Montag früh
trafen sich Kraus und Fritz vor der Reichskanzlei. Polizei
säumte die Wilhelmstraße, und die Menschenmenge
überflutete bereits die Gehwege. Alle wussten, dass hinter
diesen Mauern von Hindenburg und einer Handvoll Snobs über
Deutschlands Schicksal entschieden wurde. »Was soll das
heißen, ich kann nicht rein?«, fragte Fritz den
Wachposten am Tor erstaunt. »Franjo, du hast mich seit Jahren
hier jede Woche gesehen.«
»Es tut mir
leid, Herr Fritz. Ich habe das nicht zu entscheiden. Aber Ihr Name
steht nicht mehr auf der Presseliste.«
»Das ist
unmöglich! Ich schreibe für die Morgennachrichten .
Für die Abendnachrichten .
Für den Wochenend-Report. Ich bin Cousin dritten
Grades des Kaisers! Sagen Sie mir wenigstens, ob Kanzler von
Schleicher noch im Gebäude ist!«
»Nein, ist er
nicht. Und der General ist auch nicht mehr Kanzler. Er und all
seine Habseligkeiten wurden weggeschafft.«
Kraus wurde fast
schlecht bei den Worten des Wachmannes.
Sie fuhren mit dem
Wagen zur Lichtensteiner Allee, wo von Schleicher, wie Fritz
wusste, eine Wohnung besaß. Die Frau des Generals
begrüßte sie an der Tür. »Ich bedaure, aber
mein Mann empfängt heute Morgen niemanden.« Sie hielt
sich mit grimmiger Würde aufrecht.
»Schon gut,
Schätzchen. Die beiden können
hereinkommen.«
Von Schleicher
saß in einer Raucherjacke vor dem Kamin, das silberne Monokel
ins Auge geklemmt, und sah die beiden Männer kaum an.
»Dieser elende von Papen.« Die Flammen aus dem Kamin
tanzten über das Monokel. »Er war erst zufrieden, als er
sich an mir rächen konnte, weil ich ihn im November entlassen
habe.«
»Herr General
… all die Kisten mit den Beweisen, die wir bei Ihnen
gelassen haben …«
»Hindenburg hat
geschworen, dass er Hitler gegenüber niemals nachgeben
würde. Aber Papen glaubt, er könnte diese Bestie
zähmen.«
»Die
Beweise«, drängte Kraus ihn. »Was ist aus ihnen
geworden?«
»Glauben die
wirklich, dass sie eine stärkere Koalition bilden können,
als meine es gewesen ist? Sollen sie es doch versuchen!
Achtundfünfzig Tage haben sie mir gegeben.
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