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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Das war nicht
leicht zu verzeihen und unmöglich zu
vergessen.     
    Er warf einen Blick
auf seine Uhr. Es war genau zwanzig Uhr. Die Ärzte waren nicht
die Art Mensch, die zu spät kam. Entweder jetzt oder
nie.
    Ich bin der Gott
Thor,
    Ich bin der
Kriegsgott.
    Er erinnerte sich an
das berühmte Gedicht.
    Die Schläge
meines Hammers,
    ertönen im
Beben der Erde!
    Demut ist
Schwäche,
    Stärke
triumphiert!
    Longfellow muss ein
paar Nazis persönlich gekannt haben, sinnierte Kraus
sarkastisch. Plötzlich flog die Tür der Gaststätte
auf. Wildes Gelächter drang durch die Nacht. Männer in
schwarzen Uniformen stolperten heraus. In den Händen hielten
sie steinerne Bierkrüge und schlugen sich gegenseitig auf den
Rücken. Zwei. Drei. Vier. Willi zählte mit, als sie an
Bord schwankten. Aber erst als die Laufplanke einzogen wurde,
verspürte er so etwas wie Erleichterung. Alle sechs waren
sicher unter Deck verstaut. Die Ratten hatten den Köder
geschluckt.
    Für die
musikalische Unterhaltung war es Gustave gelungen, die große
Irmgard Wildebrunn-Schrenk aus dem Hut zu zaubern, eine der besten
Sopranistinnen Europas. Heiner Windgassen, der beliebte Tenor von
den Bayreuther Wagner-Festspielen, gesellte sich zu ihr, und nach
dem überraschenden Auftauchen des Potsdamer Wehrmachtchores
gaben sie eine mitreißende Auswahl aus der Götterdämmerung zum Besten:
»Siegfrieds Rheinfahrt«, »Brunhildes
Opfer«. Der Beifall der begeisterten Zuhörer brachte die
Jacht zum Schwanken. »Nur das Beste für meine Freunde
aus Spandau!« Der König der Mystiker breitete die Arme
aus, als die Künstler sich verneigten. »Zu Ehren unserer
Herkunft. Unserer Zukunft. Unseres Führers. Sieg
Heil!«
    »SIEG
HEIL!«
    Die Türen des
Speisesaals wurden aufgestoßen. Ganze, geröstete
Schweine und Lammkeulen lagen zwischen Bergen von Sauerkraut und
Kartoffeln. Es gab Bier und Wein für alle.
    Kraus beobachtete das
alles aus einem traumhaften Versteck heraus – er befand sich
hinter einem venezianischen Spiegel, von dem aus er die Empore
überblicken konnte. An der Schalterleiste hinter ihm konnte er
verschiedene versteckte Mikrophone bedienen, mit denen er praktisch
jedes Gespräch an Deck belauschen konnte. Dieses raffinierte
Abhörsystem war keineswegs extra für ihn aufgebaut
worden. Es gehörte Gustave und war das Werkzeug, mit dem der
»König der Mystiker« Details für seine
Darbietungen als »Gedankenleser« gesammelt
hatte.
    »Aber wo um
alles in der Welt haben Sie nur gesteckt?« Kraus drehte die
Lautstärke des Mikrofons höher, das Gustaves Unterhaltung
mit etlichen Ärzten des Instituts auffing. Der Sprecher war,
wie sich herausstellte, niemand anders als Oscar
»Jud’-damm«-Schumann, das Orthopädie-Genie.
»Wir haben schon geglaubt, Sie wären von Marsmenschen
entführt worden.«
    Es hatte nach Gustaves
Verhaftung endlose Spekulationen gegeben. Der Meister sei krank.
Der Meister sei tot. Der Meister unterziehe sich einer
Schönheitsoperation. Schließlich tauchten – dank
der Hilfe von Fritz und des Ullstein-Verlags – getürkte
Bilder in den Zeitungen auf, die den Meister zeigten, wie er die
Einsamkeit einer klösterlichen Einsiedelei in den Karpaten
genoss.
    »Ich musste
einfach nur meine spirituellen Batterien ein bisschen
aufladen«, erwiderte Gustave leise. »Sagen Sie,
Schumann, Sie und Ihre Kameraden bleiben doch noch ein wenig,
nachdem der Rest der Gäste verschwunden ist, hm? Ich habe
    
    noch ein paar
besondere Überraschungen für Sie, die Sie sicher nicht
versäumen wollen.«
    Mit grimmiger
Befriedigung sah Kraus, wie der Chirurg dem Großen Gustave
anerkennend den Arm um die Schultern schlang.
    Eine Blaskapelle trat
auf. Sie spielte Volkslieder und wilde Polkas. Es war eine Nacht,
die die Einwohner von Spandau so schnell nicht vergessen
würden. Trotzdem, es war mitten in der Woche, und am
nächsten Morgen wartete die Arbeit. Also packte die Kapelle um
Punkt elf ihre Instrumente zusammen. Die Spandauer verabschiedeten
sich leicht trunken und überschwänglich bei Gustave. Um
Mitternacht waren nur noch die sechs Ärzte vom Institut
für Rassenhygiene an Bord, die kaum erwarten konnten, zu
sehen, welche Thorrablot-Überraschung Gustave für sie
noch auf Lager hatte.
    Kraus hatte ihre
Dossiers studiert und kannte jeden Einzelnen von ihnen genau. Neben
Schuhmann saß Theodor Mollbäcker, ein Mann mit langer
Nase und buschigen Augenbrauen, Spezialist für Infektionen und
führender Verfechter der Verwendung

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