Schlafwandler
Fritz … Falleri,
Fallera-ha-ha-ha-ha. Dann war ein höchst
sonderbares Bild vor ihm aufgetaucht. Der Mann in dem bunten
Mantel, der über die Straßen von Hameln hüpfte, auf
seiner Flöte blies und dem das Ungeziefer tanzend
folgte. Die
Weser, tief und breit … einen schöneren Ort habt ihr
nie gesehen. Natürlich! Genau das musste
er tun. Er musste die Ratten herauslocken, so wie der
Rattenfänger es getan hatte.
Aber wie?
Die Antwort auf diese
Frage war ihm allmählich gedämmert.
Unten im
Polizeipräsidium …
Sobald er aus Paris
zurückgekommen war, war er dorthin geeilt, aber der
Große Gustave war nirgendwo zu finden gewesen. Die ganze
Eleganz, die Floskeln, die Magie, die den König der Mystiker
ausgemacht hatten, waren verschwunden. In der Zelle saß
stattdessen nur noch ein melancholischer kleiner Mann, ein gewisser
Gershon Lapinsky. Ein Mann, der nicht nur von der Gewissheit
gepeinigt wurde, dass seine Tage des Wohlstands und Ruhms vorbei
waren, sondern auch von einem schrecklichen Wissen, das er nicht
mehr aus seinem Gedächtnis löschen konnte. Während
ihrer Hypnosesitzung hatte Kurt Gustave all die Dinge, die er zuvor
erfolgreich ausgeblendet hatte, bewusst gemacht … das
Gesicht jeder einzelnen Person, die er schlafwandelnd in den
Untergang geschickt hatte.
»Ich habe
tagelang versucht, mich wieder zu hypnotisieren«, gestand er.
»Aber es funktioniert nicht mehr. Wollen Sie wissen, warum
nicht?« Seine Augen füllten sich vor bitterem Stolz mit
Tränen. »Weil ein Hypnotiseur ein willfähriges
Subjekt benötigt, Herr Inspektor. Und das bin ich nicht
mehr.«
Als Kraus ihm von
Sachsenhausen berichtete, schien der Körper des kleinen Mannes
in sich zusammenzufallen.
»Das ist mit den
Mädchen passiert?« Er bedeckte seine Augen mit
zitternden Fingern. »O Gott! Ich wusste, dass es etwas
Schlimmes sein musste, schließlich war es die SS. Aber das
…« Sein Kopf schien fast zwischen den Schultern zu
verschwinden. »Selbst ein Hellseher hätte das nicht
voraussehen können.« Er brach in Tränen aus.
»Wissen Sie, Kraus«, er schniefte. »Ich war nie
ein glücklicher Mensch. Schon von Anfang an nicht.« Er
tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch trocken. »Ich war
das dreizehnte Kind. Können Sie sich das vorstellen? Dreizehn
Kinder! Wenn man mich nur in Ruhe gelassen hätte und ich bei
ihr geblieben wäre. Aber die anderen zwölf … sind
alle gestorben. Und ich wollte nicht der Nächste sein. Also
bin ich weggelaufen und zum Zirkus gegangen.«
Er schwor, dass er
alles tun würde, um diese SS-Ärzte ihrer gerechten Strafe
zuzuführen.
Diesmal brauchte Kraus
keinen sechsten Sinn, um zu wissen, dass der Mann es ernst
meinte.
Unter dem milchigen
Schein des Wintervollmonds war Gustave wiederauferstanden. Der
Große Gustave, der seine Magie auf die Einwohner von Spandau
ausübte, sich verbeugte, Hände schüttelte und alle
willkommen hieß. Kraus bemerkte, dass er alle paar Sekunden
einen Blick zum Schwarzen Hirsch warf, dessen
Hakenkreuzfahne über dem Eingang unablässig flatterte.
Sie warteten beide darauf, dass die Tür sich öffnete. Es
war ganz gut und schön, dass die Einwohner herauskamen, aber
wenn die guten Doktoren des Instituts nicht ebenfalls bald
auftauchten, war alles umsonst.
Doch warum sollten sie
nicht kommen? Ein Fest zu Ehren von Thor. Ein Abend mit Musik und
eine prachtvolle Schiffsfahrt, mit Empfehlung des Großen
Gustave an Bord seiner berühmten Jacht. Warum sollten sie
einem geschenkten Gaul ins Maul schauen? Es gab keinen Grund, etwas
zu argwöhnen. Die größten Berühmtheiten der
Stadt hatten eine Einladung erhalten. Nichts konnte unschuldiger
sein. Dennoch, die Tür blieb trotzig verschlossen.
Dafür
strömte der Rest der Gäste über den Laufsteg an
Bord. Sie alle trugen ihren Sonntagsstaat und wirkten so bunt mit
ihren rotschwarzen Armbinden. Wie dankbar sie waren, diese hart
arbeitenden Menschen, dass sie zu einem solchen Abend eingeladen
waren. Und wie wenig sie sich dieses Alptraums bewusst waren, der
stromaufwärts lag, geboren aus ihrem Irrsinn. Kraus hätte
ihnen gern vergeben. Zwei Jahrzehnte Krieg, Trauer, Hunger,
Revolution und wirtschaftlicher Not hatten einen fruchtbaren
Nährboden für Extremisten bereitet, das war ihm klar.
Aber was er in dieser Anstalt gesehen hatte, war das Ergebnis ihrer
größenwahnsinnigen Phantasien, dieser verrückten
Besessenheit von der Überlegenheit ihres Blutes. Es war
rücksichtslose, kalkulierte Ausbeutung und Mord.
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