Schlafwandler
Guillotinen
gehört.
»Könnte ich
noch einen Schnaps bekommen?«
»Sicher. Wenn
Sie wollen, spendiere ich Ihnen die ganze
Flasche.«
Ruta senkte den Kopf
und schüttelte bedächtig den Kopf.
»Willi.«
Sie sah ihn an. Eine Sekunde lang konnte er sich vorstellen, wie
sie in hautengen, geblümten Schlüpfern ihre Beine im
Rhythmus mit dreißig anderen Revuemädchen im
Wintergarten geschwenkt hatte. »Sie wissen genau, dass ich
das auch ohne Schnaps für Sie machen
würde.«
Sie schwenkte sie
immer noch, mit neunundvierzig. Er liebte dieses
Mädchen.
Aber was war mit Kai?
Steckte noch etwas von dem Rebellen in ihm?
Angst
äußerte sich bei jedem anders.
Einer der Schimpansen
markierte den Affen und hämmerte gegen die Wand.
»Er will seine
Schaukel wiederhaben.« Kai grinste. »Aber er hat keine
Lust, darum zu kämpfen. Das machen Schimpansen nie. Es sei
denn …« Sein Lächeln wurde schwächer.
»Sie sind sich absolut siegessicher. Fünf oder sechs
gegen einen, zum Beispiel.«
»Was willst du
damit sagen? Willst du lieber kneifen, Kai?«
»Ich sage nur,
ich halte nicht viel von Märtyrertum.« Kai zündete
sich die nächste Juno an. Der Blick seiner scharfen, blauen
Augen klebte förmlich an dem Käfig. »Die erste
Verantwortung eines Mannes gilt sich selbst. Dann seiner Familie.
Man kann niemandem helfen, wenn man tot ist.«
»Da ist was
dran.«
»Seien Sie
vernünftig, Inspektor. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie
zwei Söhne!«
Dieser Schlag zielte
weit unterhalb die Gürtellinie. Also gut. Vielleicht war es
riskant. Kraus umklammerte das Eisengeländer. Vielleicht war
es sogar selbstmörderisch. Vielleicht würden seine
Söhne ohne Vater aufwachsen müssen, so wie er. Aber eines
war gewiss: Er würde sich nicht mehr in die Augen sehen
können, wenn er nicht alles Menschenmögliche tat, um zu
enthüllen, was in Sachsenhausen passiert war.
Kai drehte sich um.
Der Schimpanse, der eine Zigarette gewollt hatte, pickte jetzt
zufrieden seinem Gefährten die Läuse vom Kopf und steckte
sie sich in den Mund. »Ich will nicht kneifen, Inspektor. Ich
wollte nur sichergehen, dass Sie es nicht
tun.«
Am Montag, dem 27.
Februar, fegte ein eisiger Wind kleine, scharfe Eiskristalle durch
die Luft. Kraus lud Kai zu einem reichhaltigen Abendessen ins Hotel
Excelsior ein. Es war Kraus’ letzte Mahlzeit in Deutschland.
Jedenfalls … für eine Weile. Er beschwor das Bild von
Helga Meckel unter dem Ischtar-Tor. Menschen ändern ihre
Meinung. Zeiten ändern sich. Und weit mächtigere Tyrannen
als Hitler waren dem Schwert der Justitia zum Opfer
gefallen.
»Was ist los,
Kai?«, erkundigte sich Kraus, während er sich über
eine gefüllte Wachtel in Weinsoße hermachte. »Du
bist heute so schweigsam.«
Der Junge schob den
Teller mit geschmorten Bohnen von sich. »Ich bin gestern
Nacht zum Nollendorfer Palast gegangen.«
Kraus erinnerte sich
an die Menge, die an Neujahr dort gewesen war. Die harten Kerle,
die mädchenhaften Typen. Die Jungs mit ihren Fliegen. Gunther,
der ihn fragte, ob er auch tanzen musste. Der arme Gunther. Ihm
würde es bei der Gestapo ganz und gar nicht
gefallen.
»Der Club war
verrammelt. Und überall klebten Plakate mit Hitlers
Visage.«
Und der arme Kai. Wie
mies es ihm im Dritten Reich ergehen würde.
»Du kannst mit
mir kommen, wenn du willst. Paris ist eine tolle
Stadt.«
»Ich
fürchte, für Paris bin ich zu deutsch,
Inspektor.«
»Wie willst du
denn hier leben, im neuen Deutschland? Du bist schon aus der SA
ausgetreten. Ich glaube kaum, dass das dein Ansehen gesteigert
hat.«
Das markante Gesicht
des Jünglings hellte sich auf. »Bis dieser Albtraum zu
Ende ist, ziehen wir uns in die Wälder
zurück.«
Kraus sah ihn
stirnrunzelnd an.
»Wirklich! Die
Jungs und ich haben alles ausgekundschaftet. Wir haben einen Platz
im Wald gefunden, wo uns niemals jemand finden
wird.«
»Das ist nicht
dein Ernst. Was … was wollt ihr essen? Wie wollt ihr
überleben?«
»Wir leben in
Reetdachhütten, wie unsere Vorfahren. Und essen, was wir
erjagen. Wildschweine, Kaninchen. Und wenn wir können, rauben
wir Städter aus.«
Kraus bemerkte Kais
Blick. Der Junge strahlte eine fast verrückte Resignation aus,
als wüsste er sehr genau, dass er Unsinn redete, und als
wäre es ihm gleichgültig. Es war fast der gleiche
Ausdruck wie auf Gustaves Gesicht, als Kraus ihn das letzte Mal
gesehen hatte. Als wüsste er, dass er keine Chance mehr hatte.
Das flößte Kraus Angst ein. Er
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