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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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eisigen Wintertag, als
er zehn Jahre alt gewesen war und mit seinem Vater unter diesem Tor
hindurchgegangen war. Selbst damals hatten die geschnitzten
Elefanten schon jahrelang dort gestanden. Ihre langen, steinernen
Stoßzähne waren dunkel von Ruß. »Offenbar
putzen sich diese Kerle ihre Zähne nicht ordentlich!«,
hatte sein Vater gescherzt.
    Es war vermutlich das
letzte Mal gewesen, dass Kraus ihn gesehen hatte.
    Sein Vater hatte ein
so schwaches Herz gehabt, trotz all der Krankenhausaufenthalte und
Medikamente, und als Kraus’ Pelzhandel am nächsten Tag
überfallen worden war, war er im wahrsten Sinne des Wortes
umgekippt. Kraus holte tief Luft. Er hatte seit Jahren nicht mehr
an seinen Vater gedacht. Ein kalter Windhauch fegte vom
Seehundaquarium herüber. War er deshalb Polizist geworden? Um
die Schwäche seines Vaters auszugleichen? Sich an den
Bösen zu rächen, die er für seinen Tod
verantwortlich machte? Einer der Seehunde erhob sich aus dem Wasser
und bellte. Kraus lachte und wischte sich eine Träne aus dem
Augenwinkel. Warum war ihm das nie klargeworden?
    Warum? Die
älteste Frage der Welt.
    Das Affenhaus war von
Besuchern überlaufen. Die Menschen machten mehr Lärm als
die Primaten, die sich einfach nur auf die Brust schlugen und sich
wissend am Kopf kratzten.
    »Der
Reichstag?« Kais markantes Gesicht verzog sich, als sie am
Geländer vor dem Schimpansenkäfig lehnten. »Warum
suchen wir uns nicht lieber was Leichteres aus, Inspektor? Hitlers
Schlafzimmer zum Beispiel.« Er zog paffend an einer
Juno.
    »Ich mache das
nicht aus Spaß, Kai. Die Kisten sind im
Reichstag.«
    Einer der Schimpansen
streckte die Hand durch die Gitterstäbe und signalisierte Kai,
dass er auch gern mal einen Zug von dem Glimmstängel nehmen
würde.
    »Wenn man in das
Eigentum des Staates einbricht und es stiehlt, ist das
Hochverrat.« Kai starrte den aufdringlichen Affen an. Kraus
fiel auf, dass der wilde Junge weder seinen typischen Ohrring noch
seinen Poncho trug. Er hatte nur einen alten Wollmantel an, wie
alle anderen. Konformität war offenbar das neueste Modewort.
»Selbst in den bestmöglichen Zeiten würde man
dafür im Knast verrotten, Inspektor. Aber jetzt
…« Kai drückte unter den ärgerlichen
Protesten des Schimpansen die Zigarette aus. »Es kursieren
Gerüchte, dass die Guillotinen entstaubt worden
sind.«
    Köpfe werden
rollen. Das hatte Hitler angekündigt.
    »Ich habe nicht
gesagt, dass es kein Risiko gibt.«
    »Darf ich
fragen, wie Sie von der Wäschekammer zum Lagerraum der
Abgeordneten kommen wollen?«
    »Ich habe dir
doch gesagt, dass der Raum auf der anderen Seite des Flurs
liegt.«
    »Und was ist mit
der Tür? Sie ist bestimmt abgeschlossen.«
    »Das kannst du
mir überlassen, Kai.«
    Man konnte kein guter
Kriminaler sein, wenn man nicht in der Lage war, wie ein
Krimineller zu denken. Und sich, wenn nötig, auch wie einer
verhielt. Und es war nötig, das war Kraus klar. Sie hatten ihn
zu einem Kriminellen gemacht, also würde er sich auch wie
einer verhalten.
    Fünf Uhr
nachmittags. Gestern um diese Zeit hatte er in der eisigen
Kälte vor Eingang Sechs des Polizeipräsidiums gewartet.
»Inspektor!« Ruta presste eine Hand auf ihr Herz.
»Sie haben mich fast zu Tode erschreckt!« Sie versuchte
sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich umsah, ob jemand sie
beobachtete. »Mein Gott! Wie geht es Ihnen? Sie haben keine
Ahnung, wie sehr ich Sie
vermisse!«     
    »Darf ich Ihnen
einen Schnaps spendieren?«
    Sie holte tief Luft
und warf erneut einen Blick über die Schulter. »Ja,
sicher, darauf können Sie einen lassen!«
    Mehr als einmal hatte
sie Kraus wissen lassen, dass sie alles tun würde, was
nötig war, um ihm zu helfen. Jetzt würde er sehen, wie
ernst sie das gemeint hatte. Er führte sie zu Lutter &
Wegner, Berlins historischer Weinstube, die 1807 gegründet
worden war. Er konnte immer noch den ersten Schluck Wein schmecken,
den er als Junge dort getrunken hatte. Es war ein
extrasüßer Rheinländer gewesen.
    »Der
Hauptschlüssel?« Sie schluckte und kippte dann ihren
Schnaps in einem Zug hinunter.
    Laut Gesetz mussten
alle Schlösser in Berlin von einem von elf
Hauptschlüsseln zu öffnen sein. Ein komplettes Set davon
hing über Kommissar Horthstalers Schreibtisch. Es würde
bedeuten, sie müsste länger bleiben, sich in sein
Büro schleichen und vor allem dafür sorgen, dass dieses
Schlüsselset am nächsten Morgen wieder dort hing.
Zweifellos hatte auch sie die Gerüchte von den

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