Schlafwandler
fluchten, als er sie
abzuhängen drohte. Aber als Kraus an einigen
Schlafzimmerspiegeln vorbeikam, überzeugte ihn ein kurzer
Seitenblick, dass sie nicht aufgegeben hatten und dass jetzt auch
Mengele die fünfte Etage erreicht hatte.
Er bedauerte es, das
Hackbeil fallengelassen zu haben. Der Notausgang, wenn es denn
einen gab, war von Bergen von Schminktischen,
Bücherschränken, Nachttischen und Leselampen verborgen.
Wie nachlässig von der Kaufhausleitung! Es könnte jemand
ums Leben kommen! Kraus bog um eine Ecke und fand sich in einem
Labyrinth aus persischen Teppichen wieder. Hunderte von ihnen
hingen auf Ständern, waren zur Ansicht drapiert und
schimmerten in entzückenden Mustern und Farben. Wenn er nur
einen magischen Teppich finden und davonfliegen könnte! Aber
das Schicksal hatte andere Pläne.
Direkt vor sich sah er
eine hünenhafte Gestalt in einem mexikanischen Poncho mit
einem wie gemeißelt wirkenden Gesicht und mit blondem Haar,
an deren Ohr ein goldener Ring hing. »Inspektor?« Kai
stand an einer Kasse, hielt einen Beleg in der Hand und trug einen
langen, persischen Teppich über der Schulter. Er schien
Kraus’ Notlage augenblicklich zu erfassen, denn er ließ
ihn passieren, trat dann vor und blockierte den Gang. Kraus drehte
sich keuchend um und sah, wie Kai den Teppich mit einer Hand
hochhob und ihn dann mit der Entschlossenheit eines alten Teutonen
wie einen Speer durch die Luft warf. Der Teppich schleuderte den
ersten Wachmann zurück gegen den zweiten. Sie fielen zu Boden
und rissen dabei Mengele und die beiden SS-Leute mit. Sie fielen
alle um wie aufgespießte Wachteln. Ähnlich entschlossen
packte Kai Kraus’ Arm und zerrte ihn zum Notausgang.
»Sie schulden mir fünfunddreißig Mark!«,
schrie Kai, als sie die Treppe hinunterflogen. »Der Teppich
war ein Geschenk für meine
Mutter!«
Fünfunddreißig Mark,
dachte Kraus.
Wahrlich, schon wieder
ein Schnäppchen bei Tietz.
EINUNDDREISSIG
Es donnerte über
Berlin. Blitze erhellten die schmalen Gassen hinter dem
Alexanderplatz. Es fühlte sich an, als läge die Stadt
unter Artilleriebeschuss. Kraus streckte die Hand aus, um sein
Gesicht vor dem peitschenden Wind zu schützen. Der Schneesturm
war noch schlimmer geworden, falls das überhaupt möglich
war. Aber blendender Schnee war ein guter Preis, wenn man ihn gegen
die Freude der Freiheit aufrechnete. Und es war ein unbedeutender
Schmerz im Vergleich zu dem, was sein restlicher Körper so
fühlte, dachte Kraus mit einem leisen Stöhnen.
»Werden wir alt,
Inspektor?« Kai bemerkte, wie Kraus humpelte, als sie
über die verschneite Kieberstraße flohen. Sie waren
bereits mehrere Häuserzeilen vom Tietz entfernt. Was für
ein Glück, dass der Junge jede Feuertreppe und jeden
Besenschrank in dem Laden kannte. Es hatte sie zwanzig Minuten
gekostet, aber sie hatten die Scheißkerle abgehängt.
Kraus warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb zwei. Er war auf
der Flucht, seit er die Staatsbibliothek verlassen
hatte.
»Du hast ja
keine Ahnung, Kai.«
Der Sprung auf die
Straßenbahn hätte ihn in Kais Alter ein müdes
Lächeln gekostet. Jetzt tat jeder Muskel in seinem Körper
weh. Trotz des Schmerzes jedoch konnte er ein Lachen kaum
unterdrücken. Mengele musste sich vor Angst in die Hose
gemacht haben, weil Kraus entkommen war. So oder so – er
spürte die festen Ecken und Kanten seines Notizbuchs in der
Brusttasche. Er würde diese kostbaren
»Forschungsergebnisse« aus dem Reichstag schmuggeln.
Und aus diesem gottverdammten Land. Und sie dann in allen Zeitungen
weltweit veröffentlichen.
Sollten sie ihn doch
ruhig einen Dieb nennen!
»Kai
…« Kraus hielt den Jungen am Poncho fest, während
er weiter nach Luft rang. »Ich muss dich etwas fragen
… Ich habe eine Aufgabe zu erledigen. Eine wirklich
große Aufgabe. Und dafür brauche ich die Hilfe von
jemandem, dem ich vertrauen kann.«
»Hat es etwas
damit zu tun, dass diese Schwarzhemden hinter Ihnen her
waren?«
»Ja.«
Kraus wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. »Ganz
genau.«
»Dann bin ich
dabei, Inspektor.«
Das Wetter in diesem
Februar war brutal. Schneestürme wechselten sich mit
Eisstürmen ab. Es herrschte klirrende Kälte. Kraus
versteckte sich nachts bei Sylvie und arbeitete tagsüber bis
an die Grenzen seiner Kraft, studierte den Grundriss des
Reichstags, arbeitete seine Strategie aus. In seinem warmen BMW
folgte er der Strecke des Wäschelastwagens und beobachtete,
wie jeden Morgen um zehn zwei
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