Schlafwandler
uniformierte Arbeiter am
Südwest-Eingang die Säcke mit Servietten und
Tischtüchern aus dem Restaurant des Reichstags herausbrachten.
Dort herrschte trotz der Sitzungspause des Parlaments Hochbetrieb.
Der Lastwagen fuhr dann immer durch das Südtor auf die
Sommerstraße, bog nach Norden ab, überquerte die
Brücke an der Louisenstraße und fuhr zu den Vereinigten
Wäschereiwerken in der Invalidenstraße. Die Fahrt
dauerte je nach Verkehrsdichte ungefähr zwanzig Minuten. In
der Nacht kam ein anderer Lastwagen mit der sauberen Wäsche
zurück und überquerte die Brücke Louisenstraße
zwischen 20 Uhr 40 bis 20 Uhr 50, je nach
Verkehrslage.
Am dritten Tag
bemerkte Kraus einen kleinen schwarzen Opel-Lieferwagen unter den
Wagen, die hinter ihm fuhren, und packte unwillkürlich das
Lenkrad fester. Konnte das derselbe sein, den er gestern gesehen
hatte, mit dem Weißwand-Reservereifen auf dem Trittbrett? Er
kannte das Modell sehr gut. Die Berliner Polizei benutzte es
für zivile Einsatzfahrzeuge. Er hatte selbst vor gar nicht
allzu langer Zeit einen gefahren, bei seinen Besuch in Oranienburg
mit Gunther. Verfolgt mich vielleicht jemand?, dachte er und
wischte sich den Schweiß von der Stirn. Kraus wusste, dass er
seinen Verfolger leicht hätte abschütteln können.
Der Opel hatte eine Höchstgeschwindigkeit von 85 Kilometern
pro Stunde. Aber er konnte gerade jetzt keinen Schatten gebrauchen.
Als er erneut in den Rückspiegel sah, war von dem kleinen
schwarzen Wagen nichts mehr zu sehen. Das sind nur deine Nerven,
beruhigte er sich. Paranoia. Natürlich fiel ihm prompt der
morbide Witz ein, den sein Cousin Kurt so gern erzählt hatte:
»Nur weil man paranoid ist, bedeutet das nicht, dass einen
niemand verfolgt.«
Als Kraus den
Reichstag erreichte, notierte er sich, dass das Südtor
tagsüber von zwei Wachen gesichert war. Nachts jedoch war dort
nur eine postiert. Wenn er die Nachtlieferung entführte und
diesen Kontrollpunkt passierte, dann, so kalkulierte er, konnte er
bis 21 Uhr 30 sämtliche Kisten aus Sachsenhausen verladen
haben. Bis die Leute von den Vereinigten Wäschereien Verdacht
schöpften, dass etwas mit ihrem Lastwagen passiert sein
könnte, war er schon fast in Polen.
Er würde vom
Reichstag aus direkt nach Schwedt fahren, das anderthalb Stunden
von Berlin entfernt lag. Es war die mit am leichtesten zu
überquerende Grenze in Deutschland, wie er gehört hatte.
Die Wachsoldaten hielten dort nur zu gern die Hand für den
lukrativen Schwarzmarkthandel auf. Sobald er die Grenze
überquert hatte, würde er fünf Stunden nach
Nordosten zur Freien Stadt Danzig benötigen, wo er die Kisten
auf einen Frachter mit Kurs über Le Havre nach Paris
einschiffen würde.
Nicht alle,
allerdings. Einige würde er bei Sylvie deponieren, aus
Sicherheitsgründen. Falls er erwischt wurde. »Kennst du
einen Platz, wo niemand sie findet?« Sie zermarterte sich das
Hirn. »Ich könnte sie zu meiner Mutter bringen. Willst
mir nicht sagen, was drin ist?«
»Persönliche Dinge,
Sylvie.«
Sie verzog ihre
hübschen Lippen. »Du willst das Land verlassen. Wie alle
anderen auch.«
»Hast du mir das
nicht selbst geraten? Vor ein paar Wochen schon?«
»Doch,
natürlich.« Sie senkte den Blick.
Er drückte ihre
Hand, um sie aufzumuntern.
Aber seine eigenen
Stimmungsschwankungen kamen regelmäßiger, als die Uhr
die Stunde schlug.
Hoffnung.
Verzweiflung. Zuversicht. Niedergeschlagenheit. Tausend
mögliche Missgeschicke fielen ihm ein. Wenn in dieser Nacht
nun weitere Wachen postiert wurden? Oder der Lastwagen eine Panne
hatte? Oder es einen Schneesturm gab? Es musste funktionieren! Das
ganze Land hing von ihm ab. Die ganze Welt. Aber er konnte nicht
mehr tun, als er tun konnte, betete er sich vor. Er war nur ein
Mensch. Und doch … wenn er an den Inhalt dieser Kisten
dachte und daran, dass Mengele wieder frei herumlief … dann
wusste er, dass die ganze Welt tatsächlich von ihm
abhing.
Als der Termin
für die Wahlen immer näherrückte, verabredete Kraus
ein Treffen mit Kai, um ihren Plänen in der Sicherheit des
stets überfüllten Berliner Zoos den letzten Schliff zu
geben. Stefan und Erich liebten diesen Zoo. Er war immer wieder mit
ihnen dorthin gegangen. Er würde es wieder tun, irgendwann,
ganz bestimmt. Als er den Zoo durch das Elefantentor von der
Budapester Straße aus betrat, stieg plötzlich ein Bild
aus seiner Erinnerung in ihm hoch und hallte wie ein Gong durch
seinen Verstand. Es beschwor einen anderen
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