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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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zurückzudrehen. Plötzlich fand er sich im Jahr
1915 wieder, als er in den Krieg gezogen war. Seine Mutter und
seine Schwester hatten in der Menge gestanden, die den Soldaten mit
ihren Taschentüchern hinterhergewinkt hatten. Dann 1923. Eine
andere Uniform, eine andere Blaskapelle. Diesmal war er
Kriminalbeamter und seine Frau und sein kleiner Sohn jubelten ihm
zu. Jede Faser, jede Sehne seines Körpers war mit dieser Stadt
verbunden.
    Hinter dem Tor
fädelte er sich am Pariser Platz in die Menge der Wagen und
Fußgänger ein, die Unter den Linden überfluteten.
Die Bäume war jetzt kahl, und statt der Blätter hingen
die zahllosen Glühbirnen der Weihnachtsdekoration in den
Ästen. Er kam an der französischen und der britischen
Botschaft vorbei, am Hotel Adlon, an der geschäftigen Ecke der
Friedrichstraße mit den vielen Cafés, dem Schön ,
dem Bauer , dem Kranzler , dem Viktoria . Elegante Damen saßen in
ihren Mäntel und mit weißen Handschuhen auf den
Terrassen, schlürften ihren Kaffee und aßen
Brötchen, während sie dem Chaos zuschauten, das der
Streik ausgelöst hatte. Es war ungeheuerlich! Ein Skandal! Die
neue Regierung war ein Witz! Von Schleicher machte mit all seinen
Versprechungen die ganze Angelegenheit nur noch
schlimmer.
    Kraus passierte das
Kronprinzen-Palais. Das große Opernhaus von Schinkel. Der
Berliner Dom. Das Zentrum Berlins war überdimensional,
abstoßend protzig. Nicht annährend so schön wie
Paris oder Rom. Oder so distinguiert wie London oder so aufregend
wie New York. Aber es war verlockend. Lebendig. Es war
Heimat.
    Jenseits der
elegantesten Brücke der Stadt, die von Marmorstatuen
griechischer Götter gesäumt wurde, erhob sich das
Stadtschloss der Hohenzollern. Fünfhundert Jahre lang hatte
deren Dynastie von diesem gewaltigen, braunen Palast aus regiert,
der das Herz des kaiserlichen Berlins darstellte. Dann, praktisch
über Nacht, waren sie abgesetzt und ins Exil getrieben worden.
Jetzt stand das Schloss leer. Niemand wusste genau, was daraus
werden sollte. Und was aus Deutschland werden sollte.
    Während er
Häuserzeile um Häuserzeile passierte, schossen Kraus
Gedanken durch den Kopf, Erinnerungen an seinen langen Marsch nach
Hause, 1918, als das besiegte deutsche Heer über die
Invasionsroute von 1914 zurückmarschierte, durch
Nordfrankreich, durch Belgien, dann über den Rhein. Ortschaft
um Ortschaft, Stadt um Stadt, alles war nur Schutt gewesen. Damals
war Deutschland selbst verschont geblieben. Aber wenn es, was Gott
verhüten möge, noch einen Krieg geben
würde?
    Als er den
Alexanderplatz erreichte, taten ihm die Füße weh. Der
Platz wirkte verlassen ohne die Straßenbahnen und Busse. Zum
Glück sollte der Streik nur bis 13 Uhr dauern.
    Bevor er ins Büro
ging, machte er einen Abstecher zum Alexander-Haus, um die
Papier-Konservatorin aufzusuchen. Die Frau hatte es nicht zur
Arbeit geschafft, was ihn nicht wunderte. Aber das bedeutete, dass
er seine Unterlagen erst nach Weihnachten bekommen würde. Was
konnte man tun? Er war hungrig und fror. Die leuchtende, rote
Neonwerbung des Café Rippa lockte ihn
hinein.
    Während er gerade
genüsslich einen Teller heißer Suppe löffelte,
hatte er plötzlich das Gefühl, dass jemand unmittelbar
hinter ihm stand. Fast hätte er den Löffel fallen lassen.
Es war Kai, der zum Nazi konvertierte ehemalige »Rote
Apache«, der ihm über die Schulter blickte. Für
einen Moment rechnete Kraus mit dem Schlimmsten. Aber dann sah er,
dass der junge Mann wieder seinen grünen Wollponcho trug, die
Augen mit Maskara geschwärzt hatte und dass der goldene Ring
an seinem Ohrläppchen baumelte. Kraus atmete erleichtert auf.
»Kai! Hast du schon gefrühstückt? Sag, was ist aus
deiner neuen Stellung geworden?«
    »Das war nichts
für mich.« Der Junge verzog sein Gesicht, als er sich zu
Kraus an den Tisch setzte und eine Zigarette anzündete.
»Die Uniform ist zu hässlich. Und außerdem«,
er stieß den Rauch aus, und seine Miene wurde fast
tugendhaft, »ist Röhm ein Schwein. Wenn ich schon fette,
alte Schweine ertragen muss, dann lasse ich mich lieber auch
dafür bezahlen.«
    »Verstehe«, meinte
Kraus, der die Logik nachvollziehen konnte.
    »Können Sie
diesen Streik begreifen?« Kais blaue Augen funkelten trotzig.
»Am Heiligen Abend? Scheiß auf die Nazis. Und auf die
Kommunisten.«
    »Kai …
vielleicht können wir uns noch einmal gegenseitig
helfen.«
    Zu sehen, wie das
Gesicht des Jungen sich aufhellte, machte die Mühen des

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