Schlafwandler
würde. Stattdessen zog
er sie in seine Arme und umarmte sie wie ein verlorenes Kind, wie
einen kostbaren, gerade erst gefundenen Schatz.
Sie liebten sich wie
frisch Vermählte.
»Kraus, enthalte
es mir nicht vor«, keuchte sie verzweifelt. »Ich
brauche dich so dringend. Ich brauche es, brauche, dass du es tust.
Verstehst du nicht? Aber diesmal nicht mit der Hand, sondern mit
deinem Gürtel. Fest! Sei nicht so feige! Oh, Gott, bitte, sei
nicht … glaub nicht, dass du mir wehtust … Ahhh
… ja … Genauso, Kraus, fester! Glaub nicht, dass du
… Ahhh! Ja. Ja! Fester Kraus!«
VIERZEHN
Der Montagmorgen war
neblig und grau. Paula blieb im Bett. Es war Heiligabend. Sie
würde ihre Mutter besuchen. Wollte Kraus mitkommen? Ein tolles
Essen würde es allerdings nicht geben, nicht wie im Haus
Vaterland .
Aber …
»Ich nehme
lieber einen Gutschein für diese Einladung.« Er beugte
sich vor und küsste sie. »Wie du sagtest, kein Grund zur
Eile.«
Nachdem er sich vor
der Tür den Mantel gegen die feuchte Kälte
zugeknöpft hatte, dauerte es nicht lange, bis er merkte, dass
irgendetwas nicht stimmte. Es fuhren keine Straßenbahnen. Und
keine Busse. Stattdessen sammelten sich aufgeregte Menschentrauben,
in denen etwas von Streik gemurrt wurde. Keiner wusste, ob die
S-Bahn noch verkehrte, also ging Kraus an der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, deren düstere
Glocken die volle Stunde schlugen. Am Bahnhof Zoo erwartete ihn
eine außergewöhnliche Szenerie.
Der riesige Bahnhof
war leer, doch davor standen Hunderte von Kommunisten und Nazis.
Statt sich jedoch wie sonst zu bekriegen, standen sie als
Streikposten in einer Reihe, gemeinsam. Die Erzfeinde, die jetzt
schon seit Jahren die Pflastersteine Berlins mit ihrem Blut
tränkten, waren offenbar einen Teufelspakt miteinander
eingegangen und hatten sich für einen sechsstündigen
Ausstand aller öffentlichen Transportmittel
zusammengeschlossen. Die extreme Rechte und die extreme Linke
vereinten ihre Kräfte, um gegen von Schleichers Forderung zu
protestieren, dass alle paramilitärischen Organisationen
umgehend aufgelöst werden sollten. Das war beispiellos. Ihr
Ziel war es, die Wirtschaft lahmzulegen. Und sie machten ihre Sache
ausgezeichnet. Kraus sah, dass die Verkehrsmittel hoffnungslos
eingekesselt waren, und kam zu demselben Schluss wie offenbar alle
anderen auch: Der einzige Weg zur Arbeit war der zu
Fuß.
Halb Berlin trottete
durch den Tiergarten. Männer, die Aktentaschen unter den Arm
geklemmt, Sekretärinnen mit rot geschminkten Wangen bummelten
mit ihren Handtaschen am Arm daher, wohl wissend, dass ihre Chefs
heute geduldig sein mussten, ganz gleich, wie sehr sie sich
beeilten. Viele wirkten auch verängstigt oder bestürzt.
Seit der Revolution von 1919 war der öffentliche
Personenverkehr nicht mehr zum Erliegen gekommen. Wie leicht die
Stadt zu erschüttern war! Alles, was man für
selbstverständlich genommen hatte, war wie weggewischt. Einige
machten sich darüber lustig, sangen traditionelle Wanderlieder
oder sogar Weihnachtslieder. Und noch mehr Menschen fuhren Fahrrad.
Fahrräder, wohin das Auge blickte. Wo kamen die alle her?
Kraus wurde klar, dass offensichtlich sehr viele Menschen von
diesem Streik gewusst hatten.
Gestern war er mit
Paula durch ebendiesen Park spaziert, wie er es ihr versprochen
hatte. Sie waren durch die alten Jagdgründe des Königs
geschlendert, hatten sich an die Bäche gesetzt, Pfennige in
den Goldfischteich geworfen. Wie wundervoll es gewesen war, ihr das
weiße Schloss Bellevue zu zeigen und die Siegessäule.
Sie war ihm vorgekommen wie eine Touristin aus einem fremden Land.
Was sie jetzt wohl tat? Ob sie noch im Bett lag?
Er brauchte eine
Stunde bis zur anderen Seite des Tiergartens. Er kam an vielen
Leuten vorbei, die erschöpft auf Bänken hockten, sich
trotz der Kälte die Schuhe auszogen und ihre Füße
massierten. Zwischen den Bäumen tauchte das große, graue
Reichstagsgebäude auf mit der Widmung »Dem Deutschen
Volke«. Kraus war von Dunst umhüllt und umringt von
mehreren Abteilungen berittener Polizei, die sich offenbar auf eine
Massendemonstration vorbereiteten. Oder auf eine Revolution. Einen
Militärputsch. Die Rückkehr des Kaisers.
Das wusste in diesen
Tagen wohl nur Gott allein.
Direkt vor ihm erhob
sich das Brandenburger Tor, gekrönt von seiner goldenen
Göttin und der Quadriga. Das Symbol von Berlin. Als Kraus
zwischen die gigantischen Säulen trat, schien sich die Zeit
von allein
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