Schlafwandler
sollen sie denn deiner Meinung nach
sonst drucken?«
»Darum geht es
nicht.« Sylvie richtete sich auf. »Sie haben dich jetzt
im Visier, Willi. Verstehst du denn nicht … wenn sie einmal
angefangen haben, hören sie nicht mehr auf!«
»Und was soll
ich deiner Meinung nach tun?«
Sie wurde blass.
»Wenn du auch nur ein bisschen Verstand hättest,
würdest du dieses Land verlassen. Bis diese Schweinerei
weggefegt worden ist.«
»Und wenn ich
weniger Verstand hätte als nur ein bisschen?«
Sie zuckte hilflos mit
den Schultern. »Dann habe ich keinen Rat für dich. Es
sei denn, falls du ihn jemals brauchen solltest …« Sie
schob ihm eine Visitenkarte mit ihrer Adresse hin. »…
werde ich alles tun, was ich kann, um dir zu
helfen.«
Er hatte
plötzlich einen Kloß in der Kehle. »Danke.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist wirklich sehr
freundlich, Sylvie. Beten wir darum, dass ich dich niemals beim
Wort nehmen muss. Und wie wäre es jetzt mit einer schönen
Tasse Kaffee?«
Der erste
Weihnachtstag verlief wundervoll friedlich. Unter Kraus’
Fenster ratterten die Straßenbahnen funkenstiebend über
die Schienen. Gegen Mittag rief er seine Familie an. Sie hatten
eine wundervolle Zeit. Sie waren im Louvre gewesen, hatten eine
Bootsfahrt auf der Seine unternommen und würden morgen nach
Versailles fahren. Als er auflegte, brannte ihm die Kehle, weil er
sie so schrecklich vermisste.
Er lümmelte den
ganzen Tag im Pyjama herum und las immer wieder in diesen
verdammten Dossiers. Er konnte sich nicht konzentrieren. Dann
starrte er die Fotos an der Wand an, und seine Vorfahren starrten
zurück. Sylvie war die dritte Person in dieser Woche, die ihm
geraten hatte, Deutschland zu verlassen. Es wurde langsam
lästig. Seine Familie lebte hier seit … seit wann
eigentlich? Seit der Zeit Karls des Großen. Warum sollte
jemand auf die Idee kommen, dass er einfach alles zusammenpacken
und weglaufen würde? Und dennoch … er fragte sich
unwillkürlich, wohin er sich wohl wenden würde, wenn er
tatsächlich gezwungen würde, wegzugehen.
Als er in das
dampfende Wasser seiner Badewanne stieg, versuchte er sich
vorzustellen, wie die arme Gina Mancuso an jenem Tag in das eisige
Wasser gegangen war. Die Havel war ein sehr breiter Fluss, an
manchen Stellen fast so breit wie ein See. Wenn sie versucht hatte,
zu entkommen, dachte er, während er bis zu den Ohren im
Seifenschaum lag, musste es doch etwas gegeben haben, wohin sie
schwimmen wollte, richtig? Eine Insel vielleicht. Oder das andere
Ufer. Jedenfalls ein Stück Land, bevor der Fluss breiter
wurde. Und zwar in Richtung der Strömung flussaufwärts
von Spandau.
Er sprang aus der
Wanne.
Dr. Hoffnung hatte
gesagt, sie wäre zwanzig Minuten nachdem sie ins Wasser
gestiegen war, gestorben, etwa sechs oder sieben Stunden bevor man
sie gefunden hatte. Die Strömung der Havel war stark, aber die
kurze Zeitspanne begrenzte die Entfernung. Kraus schlang sich ein
Badetuch um die Taille und nahm sich einen Stadtplan von
Berlin.
Gerade, als er ihn auf
dem Tisch ausgebreitet hatte, verharrte er wie erstarrt, als es
heftig an der Tür klopfte.
»Kraus! Aufmachen! «,
schrie jemand.
Es war eindeutig nicht
der Weihnachtsmann.
Vielleicht eine
Abordnung von Ernst Röhms
»Geschäftsfreunden«?
Er warf sich den
Bademantel über, schnappte sich seine Pistole und stellte sich
neben die Tür. Seifenschaum tropfte auf den Boden.
»Mach auf, du
Blödmann! Ich bin’s, Fritz!«
»Mensch! Du hast
mich fast zu Tode erschreckt!«
Kraus schob den Riegel
zurück. Fritz trug einen Zylinder und einen Smoking, hatte das
lange, schwarze Cape über den Arm gelegt und hielt
Champagnerflaschen an seine Brust gedrückt.
»Wusste
ich’s doch, dass du dich hier vergräbst.« Fritz
stürmte herein. Seine glasigen Augen verrieten, dass er
bereits einen ziemlichen Vorsprung hatte, was das Feiern anging.
»Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du die
ganzen Feiertage damit verbringst …« Dann bemerkte er
die Pistole. »Willi …«
»Schon
gut.« Kraus legte die Waffe weg.
Fritz stellte die
Flaschen auf den Tisch und nahm den Zylinder ab. »Zum Teufel!
Jemand ist hinter dir her.«
»Niemand ist
hinter mir her.«
»Du
lügst!«
»Warum sollte
ich dich anlügen, Fritz? Ich bin nur etwas angespannt. Wie
alle anderen auch.«
»So angespannt,
dass du mit einer Pistole in der Hand die Tür
aufmachst?«
»Ich verspreche
dir, dass es nichts zu bedeuten hatte.«
Fritz starrte
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