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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Pygmäen.
Elefanten zertrampelten die Köpfe in die Erde Eingegrabener.
Paula war vollkommen fasziniert und stand schließlich mit den
anderen auf, um dem Triumph des Guten am Ende zu
applaudieren.
    »War die Colbert
nicht großartig?« Sie hakte sich bei Kraus unter, als
sie das Kino verließen. »Dieses Milchbad. Ich habe noch
nie etwas so Sinnliches gesehen. Soll ich für dich in Milch
baden, Kraus? Möchtest du das, hm? Du kannst es mir ruhig
sagen …«
    »Ich möchte
nur eines in Milch baden«, erwiderte er entschieden,
»und zwar Haferflocken in heißer Milch. Also, wo
möchtest du dinieren?«
    Paula packte sein
Revers. »Versprichst du, dass du mich nicht auslachst?«
Sie drohte ihm mit der Faust.
    »Ich lache
nicht, versprochen.«
    Aber als sie es ihm
sagte, musste er sein Versprechen brechen.
    Kempinskis Haus
Vaterland war selbst in Berlin einzigartig.
Strahlend hell erleuchtet erhob sich sein großes,
kuppelförmiges Dach über dem Potsdamer Platz, ein
Riesenrad aus sich drehenden, blitzenden Neonlichtern, die
über die ganze Stadt strahlten, in dem zwölf Kapellen,
fünfzig Kabarettnummern und die berühmten Haus-Vaterland-Mädchen auftraten.
    Kraus war zahllose
Male hier gewesen. Sein Schwiegervater liebte es. In dem
bayerischen Biergarten fanden tausend Gäste Platz, neben einem
künstlich angelegten See, bedient von Kellnerinnen in
traditionellen Dirndln und jodelnden Kellnern; die Weinterrasse am
Rhein, auf dem Paddelboote an Miniaturschlössern vorbeitrieben
und alle zwei Stunden ein künstlicher Regensturm losbrach; die
ungarische Konditorei, der japanische Teegarten, der
Wildwest-Saloon. Es gab nichts Vergleichbares in ganz Europa. In
diesem vollkommen überdrehten Irrenhaus konnten sechstausend
Gäste gleichzeitig abgefüttert werden.
    Paula entschied sich
für das Wiener Café, in dem hundert
überfüllte Tische ein Diorama des Alten Wien und der
Donau überblickten. Und ein gewaltiges trompe
l’œil des Hauptbahnhofs, in dem
elektrische Züge Brücken überquerten, unter denen
mechanische Boote hinwegsegelten. Zig Paare wirbelten wie
verrückt zu den Klängen eines Orchesters über den
Tanzboden, das Strauß-Walzer spielte.
    »Was
soll’s? Man lebt nur einmal, stimmt’s?«, rief
sie, als der Kellner ihnen die Speisekarten brachte. Es war ein
wundervoller Abend. Sie tanzten. Sie lachten.
    Wie ein ganz normales
Paar.
    Beide waren reichlich
beschwipst, als das Taxi sie vor Kraus’ Wohnung absetzte.
Paula machte Kaffee, sie blieben auf und plauderten über ihre
Kindheit. Sie waren, so vermuteten sie anhand der Karte, die Kraus
auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte, nur wenige Kilometer
Luftlinie voneinander entfernt aufgewachsen. Dennoch hätten
sie auch auf anderen Planeten geboren sein können. Keine der
Gegenden, in denen der eine gelebt hatte, schien dem anderen
bekannt zu sein. Kraus konnte nicht fassen, dass sie niemals in
Berlins größtem Park, dem Tiergarten, gewesen
war.
    »Das ist einfach
unerhört!«, verkündete er. »Du bist kulturell
vollkommen verkommen. Morgen«, er faltete den Plan zusammen,
»fahren wir da hin.«
    Als sie sich
bettfertig machten, verschwand Paula wieder im Badezimmer, und als
sie zurückkehrte, war sie wie ein zartes, klammerndes,
bedürftiges Kätzchen. Sie setzte sich auf seinen
Schoß, schlang ihre Arme um seinen Hals und fuhr mit ihren
behandschuhten Fingern durch sein Haar. Dann wollte sie
plötzlich über Gina reden.
    »Sag mir die
Wahrheit.« Sie zog ihn geschickt an ihren Busen. »Ich
muss es wissen, Kraus. Was ist wirklich mit ihr passiert? Wie hat
man sie umgebracht?«
    Seine
Abwehrmechanismen waren außer Kraft gesetzt. Er fühlte
sich ihr so nah. Er bat sie, sich ihm gegenüber
hinzusetzen.     
    »Es ist eine
sehr hässliche Sache, Paula. Bist du sicher, dass du es wissen
willst?«
    »Ich muss es
wissen, Kraus. Frag mich nicht, warum.«
    Er erzählte ihr
alles.
    »Man hat an ihr
herumexperimentiert? O nein, das kann nicht wahr sein! Kraus, das
darf einfach nicht wahr sein! Niemand kann so grausam
sein.«
    Dann gestand sie ihm
mit düsterer, trauriger Stimme, dass Gina und sie mehr als nur
Mitbewohnerinnen gewesen waren, viel mehr. Und dass sie die ganze
Zeit von Gewissensbissen geplagt worden war, weil sie Gina nicht
von Gustave ferngehalten hatte, obwohl alle wussten, was für
ein Schwein er war und mit welch schlimmen Gestalten er sich umgab.
Sie sah Kraus voller Angst an, als erwartete sie, dass er sie
schlagen oder in die Gosse stoßen

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