Schlafwandler
tun Sie
mir das an? Was wollen Sie, Kraus?«
»Sagen Sie mir,
was mit den Mädchen passiert ist. Kooperieren Sie, und ich
mache es Ihnen leichter.«
»Ich habe keine
Ahnung, wovon Sie sprechen. Welche Mädchen?«
»Du hast es
doch selbst gesagt, Willi«, hörte er Paulas Stimme.
» Gustave ist nur ein
Zuhälter. Wenn du ihn jetzt einkassierst und er nicht
redet?«
Gustaves braune Augen
wirkten vollkommen unschuldig.
Kraus musste sich
zusammenreißen, um ihn nicht zu würgen.
»Und wenn er
wirklich nichts weiß?« Er erinnerte sich an Fritz’
Einwand. »Vielleicht schickt er
die Opfer ja nur zu irgendeinem vorher besprochenen
Ort.«
»Er muss es
trotzdem arrangieren. Es mit jemandem
besprechen.«
»Vielleicht
lassen sie ihn im Dunkeln tappen.«
»Aber
warum?«
»Weil«, hatte Paula
spekuliert ,
»er es vielleicht nicht wirklich freiwillig tut. Vielleicht
… haben sie etwas gegen ihn in der
Hand.«
Kraus dachte an
Gustaves Jacht. An seine Verlage. An die Millionen, die dieser Kerl
besaß. Konnte er wirklich all das, was er getan hatte, wegen
des Geldes getan haben? Konnte jemand so gierig sein? Oder hatten
diese Nazis wirklich etwas gegen ihn in der Hand?
Kraus hatte nicht
genug Geduld, um das herauszufinden.
Und er hatte auch
keine Zeit für eine Schlacht.
»Spanknobel
… ich biete Ihnen eine letzte Chance zur Kooperation. Wenn
Sie sich Sorgen um Ihre Sicherheit machen, dann bin ich bereit,
Ihnen Schutz
anzubieten.«
Gustave sah ihn
vollkommen verblüfft an.
Dann brach er in
schallendes Gelächter aus.
»Sie wollen mir
…« Sein Lachen wurde lauter. »Ich kenne mein
Schicksal besser als jeder andere. Es steht in den Sternen! Nichts,
was Sie tun, könnte den Lauf der …«
Kraus verließ
die Zelle und schlug die Tür hinter sich zu. Den ganzen Weg
durch den Flur hörte er Gustave schreien: »Holt mich
hier raus!« Aber wenn kompromittierende Fotos und eine Nacht
hinter Gittern den Widerstand des Meisters nicht hatten brechen
können, musste er eben einen Gang höher
schalten.
Offenbar hatte Kraus
es hier mit einem Profi zu tun. Also brauchte er einen anderen
Profi. Er stürmte nach oben, um zu telefonieren, doch dann
fiel ihm zu seinem Schrecken das Datum ein: Es war der 2. Januar.
Kurt hatte gesagt, dass er Berlin am 2. verlassen würde. Kraus
vergaß das Telefon und rannte auf die Dircksenstraße,
ohne sich vorher den Mantel anzuziehen. Wo zum Teufel hatte er
seinen Wagen geparkt?
Sein Cousin lebte in
einem vornehmen Haus auf der Budapester Straße, dessen
Eingang von geflügelten Drachen gekrönt war. Kraus
erinnerte sich noch aus Kindertagen sehr gut an dieses Haus, an die
langen, gewundenen Treppen, in denen es hallte wie in den Alpen; an
den wundervollen Geruch von Essen und das Lachen an den Feiertagen.
Ein merkwürdiges Echo drang ihm an die Ohren, als er die
Türklingel drehte. Jemand betrachtete ihn durch das Guckloch.
Dann öffnete Kurts Frau die Tür, schlang seine Arme um
ihn und brach in Tränen aus.
»Willi! Um
Himmels willen, ich hatte ja so eine Angst, dass wir dich verpassen
würden.« Käthes dunkle Augen waren vor Anspannung
gerötet. »Komm herein. Viel kann ich dir aber nicht
anbieten. Wir fahren in ein paar Stunden zum Bahnhof. Ich habe
bestimmt ein Dutzend Mal bei dir angerufen, damit sich die Kinder
verabschieden könnten, aber Kurt sagte mir, die Jungs
wären in Paris. Du kannst dir wirklich nicht vorstellen, was
das für eine furchtbare Woche war.«
Kraus erschrak, als er
die Wohnung sah. Vor ein paar Monaten noch war er mit Erich und
Stefan hier gewesen, um das jüdische Neujahr zu feiern. Die
Wände waren mit Büchern und Gemälden
buchstäblich gepflastert gewesen. Auf dem Boden hatten
Perserteppiche gelegen, in chinesischen Blumenschalen hatten
afrikanische Veilchen geblüht. Ein schimmernder
Stutzflügel hatte in der Ecke gestanden. Jetzt war alles leer,
als wären alle Habseligkeiten von einem riesigen Staubsauger
weggesaugt worden.
Die Vergangenheit war
wie weggewischt.
Wie auch die Zukunft.
Wohin würde er mit den Jungs das nächste Mal über
die Feiertage fahren?
Sein Cousin und die
drei Kinder saßen auf dem Boden auf Kisten und balancierten
Frühstücksteller auf dem Schoß. Kurt sprang hoch.
Er trug ein Hemd mit offenen Manschetten und
Hosenträger.
»Sieh mal, wer
da kommt, um sich zu verabschieden.«
Helmut, Kurts Sohn,
der etwa in Stefans Alter war, fing an zu weinen. »Ich will
nicht weggehen!«
Gregor, Erichs Freund,
verschwand und
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