Schlafwandler
Rand
der Pritsche, bedrängte Gustave und beugte sich erneut vor, um
ihm direkt in die Augen zu sehen, »… bin ich sicher,
dass Sie erkennen, wie klug es ist, sich in das Unvermeidliche zu
fügen. Sehen Sie sich um! Wo glauben Sie, dass Sie sind? Tief
unter dem Polizeipräsidium.« Kurts Stimme wurde leiser.
»Es gibt keinerlei Fluchtmöglichkeiten. Diesmal nicht.
Diesmal werden Sie nicht wieder freigelassen. Es sei denn
…«, er flüsterte jetzt fast, »es sei denn,
Sie akzeptieren die Tatsache, dass Sie nicht mehr der Herr der Lage
sind. Ergeben Sie sich, Gustave. Geben Sie auf
…«
Kurt lehnte sich etwas
zurück, während er kaum vernehmlich flüsterte.
»Niemand will Ihnen etwas tun. Da draußen vielleicht
schon. Aber hier drin nicht. Wir wollen, dass Sie sich sicher
fühlen, behaglich. Wir wollen Sie sogar aus dieser dunklen,
stinkenden Zelle herausholen. Inspektor, dürfen wir Ihr
Büro benutzen?«
Kurt plauderte auf dem
Weg zum Aufzug unaufhörlich weiter.
»Der Inspektor
hat so eine gemütliche Couch. Wirklich, man könnte darauf
leicht einschlafen. Dort ist es so viel entspannender und
angenehmer als in dieser schrecklichen Zelle.«
Auf der Fahrt hierher
hatte Kraus seine Sorge darüber geäußert, dass ein
so meisterhafter Hypnotiseur wie Gustave sich nicht so leicht damit
abfinden würde, dass man jetzt den Spieß einfach
umdrehte.
Doch Kurt hatte ihm
widersprochen. »Ich muss ihn nur beruhigen, Willi. Ihn
beruhigen und einlullen. Er ist ein Gefangener. Wie mutig er auch
tut, in seinem Innersten ist er verängstigt wie ein kleiner
Junge. Ein Hypnotiseur kann die Furcht benutzen, wie ein Diktator.
Oder Erleichterung anbieten. Sobald er deine Aufmerksamkeit erregt
hat, deine innere Aufmerksamkeit, beginnt die Beeinflussung. In
einer Trance bist du unter seiner Kontrolle, ob es dir gefällt
oder nicht. Es hat nichts mit Magie zu tun, und ebenso wenig mit
Wissenschaft. Es ist eine Kunst. Und ich bin darin genauso
geübt wie Gustave. Vertrau mir einfach.«
Sie erreichten
Kraus’ Büro.
»Ich ziehe nur
die Vorhänge vor, wenn ich darf. Die Morgensonne ist so hell.
Herr Gustave, setzen Sie sich doch. Na, habe ich Ihnen zu viel
versprochen? Man könnte auf dieser Couch sofort einschlafen,
stimmt’s? Sie können sich entspannen. Nehmen Sie ihre
Fliege ab! Und ihre Jacke! Machen Sie nur, Gustave, entspannen Sie
sich. Entspannen Sie sich einfach …«
Wiederholung, hatte
Kurt erklärt, lullt das Unterbewusstsein in einen
tranceähnlichen Zustand ein, wie es Wiegenlieder bei
Säuglingen tun. Immer und immer wieder, langsam, aber stetig
musste der Hypnotiseur Vorschläge ins Unterbewusste
einpflanzen. »Sie werden sehr müde … sehr, sehr
müde.« Bis allmählich … »Wie beim
Schlaflied und gute Nacht«, das Unterbewusste es
akzeptierte.
»Das
Unterbewusste ist sehr primitiv, Willi. Irrational. Intuitiv.
Deshalb können selbst geifernde Psychotiker erfolgreich sein.
Sieh dir nur Hitler an! Ein Meister der Hypnose. Der Mann ignoriert
sämtliche Logik und wendet sich direkt an das Unterbewusste.
Seine Reden sind vollkommen sinnlos. Aber sinnvoll müssen sie
auch nicht sein.«
Kraus erinnerte sich
an eine der jüngsten Radioansprachen des
Führers.
Das Deutschland von
heute ist nicht das Deutschland von gestern – ebenso wenig,
wie das Deutschland von gestern das Deutschland von heute war. Das
deutsche Volk der Gegenwart ist nicht das deutsche Volk von
vorgestern, sondern das deutsche Volk von den zweitausend Jahren
deutscher Geschichte, die hinter uns liegen.
Sieg Heil! Sieg
Heil! Sieg Heil!
Sobald die Trance
eingesetzt hatte, waren ihre Effekte rein mechanisch. Ein Subjekt,
das sich ihr ergeben hatte, würde gehorchen. Ungeachtet
dessen, ob er oder sie an den Hypnotiseur glaubte oder nicht
glaubte.
Der Hypnotiseur musste
nur die Trance herbeiführen.
»Was Sie
für eine schreckliche Nacht durchgemacht haben müssen,
ganz allein in dieser schrecklichen Zelle! Ich wette, Sie
möchten diese ganze Erfahrung nur schnell vergessen. Sie
verschwinden lassen … wie einen unangenehmen Traum. Alle
Sorgen verschwinden lassen. Alle Gedanken, die Sie gedacht haben
müssen. Sie lösen sich einfach auf … mit einem
tiefen Atemzug. Kommen Sie, tun Sie es, Gustave! Holen Sie tief
Luft! Atmen Sie ein und aus! Genau so! Sie sind ein
Glückspilz. Denken Sie nur an all die Menschen in Berlin, die
vor Kälte zittern. An all die Leute, die nicht das Glück
haben, auf einer netten, gemütlichen Couch zu
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