Schlafwandler
und
Tanznummer von angeblich siamesischen Zwillingen. In der Schnurrbart-Lounge drängten sich
Säufer, die Gesichtsbehaarung von außergewöhnlichen
Proportionen zur Schau stellten, angefangen von komplizierten
Koteletten bis hin zu walrossartigen Schnurrbärten.
Aber niemand, keiner
Einziger von ihnen, hatte Kai gesehen.
Es wurde spät.
Kraus hätte längst aufgegeben, wenn er nicht ständig
Paula vor sich gesehen hätte, die auf Hilfe
wartete.
Noch ein letzter
Versuch, sagte er sich.
Fast am Ende der
Friedrichstraße, vorbei an den Nachtklubs und Kabaretts, an
den schmierigen Restaurants und Sexbuchläden, gab es ein
unheimliches Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert, eine
schmutzige, mit Glas überdachte Einkaufsarkade, die man die
»Passage« nannte. Selbst an einem sonnigen Tag
herrschte hier Dämmerlicht. Im Inneren fanden sich zwischen
abblätternden Metallpfeilern Geschäfte, in denen alles
verkauft wurde, angefangen von Gemälden der Jungfrau Maria bis
hin zu künstlichen Penissen. Nachts war es die Heimat der
traurigsten Stadtkinder, der Puppenjungs. Es waren die
jüngsten Strichjungen Berlins, meist noch unter zehn,
höchstens aber elf oder zwölf Jahre alt. Sie versuchten,
etwas zu essen zu bekommen oder einen Platz, wo sie sich nachts zur
Ruhe betten konnten. Ihr Treffpunkt war das Anatomische Museum in
der Mitte der Passage, eine Ausstellungshalle mit Puppen und echten
Körperteilen, die alle bekannten Deformationen zeigten, die
der Menschheit bekannt waren. Davor standen die Jungs zu Dutzenden
herum, mit kurzen Hosen und Schulkappen, schmutzigen Gesichtern und
verzweifelten Mienen. Sie stürzten sich auf jeden Mann, der
vorbeikam.
»Hat einer von
euch Kai von den ›Roten Apachen‹
gesehen?«
Ihre Gesichter wurden
wie auf Stichwort ausdruckslos.
»Chef«,
flüsterte Gunther mit besorgter Miene. »Wir haben jetzt
so lange nach ihm gesucht … da hätten wir auch vor
Gustaves Wohnung warten können. Er müsste längst
wieder zu Hause sein.«
Kraus machte einen
letzten Versuch. »Fünf Mark für den, der mich zu
Kai bringen kann.«
Ein halbes Dutzend
Jungen trat vor.
Es kostete ihn
dreißig Mark, aber er bekam seine Antwort.
Und wo war der
Anführer der »Roten Apachen«?
La
Traviata machte gerade eine Pause, als
Kraus und Gunther mit quietschenden Reifen auf der Straße
Unter den Linden vor dem großen, alten Opernhaus anhielten.
Zwischen den Damen und Herren, die aus dem Gebäude aus dem 18.
Jahrhundert herausströmten, entdeckte Kraus endlich den
Jungen. Er trug einen glänzenden, weißen Smoking und
lächelte, als er die Haupttreppe an der Seite eines reichen
Mannes herunterschlenderte, den Kraus sehr schnell als den Prinzen
von Thüringen erkannte.
»Wie schön,
Sie zu sehen, hallo!« Kraus tat, als hätten sie sich
zufällig getroffen. Während er Kais riesige Pranke
schüttelte, beugte er sich vor. »Ich muss Gustave
finden«, flüsterte er ihm zu.
»Geben Sie mir
eine Minute«, erwiderte der Junge ebenso leise.
Kraus und Gunther
traten zur Seite und bemühten sich etwas verlegen, sich unter
die Menge der Opernfreunde zu mischen. Fasziniert beobachtete
Kraus, wie der attraktive Achtzehnjährige den faltigen, alten
Prinzen bearbeitete. Eine Minute später war er bei
ihnen.
»Ich habe ihn
überreden können, den zweiten Akt ausfallen zu lassen,
Gott sei Dank. Ich bin vor Langeweile fast gestorben. Er nimmt mich
zu einer Party mit, auf der angeblich auch Gustave sein soll.
Bemühen Sie sich nicht, auch hereinzukommen. Auf der anderen
Straßenseite befindet sich ein kleiner Park. Ich werde
versuchen, den Hundesohn dorthin zu locken.«
Kraus verließ
der Mut. »Das wird nicht klappen.« Er dachte an die
vielen wunderschönen Frauen, mit denen sich Gustave so gern
umgab.
»Inspektor
…« Kais Augen funkelten. »Vertrauen Sie mir. Er
ist nicht der Einzige, der hypnotische Kräfte
besitzt.«
Kraus und Gunther
sahen zu, wie der Junge seinen kräftigen Arm um die Taille des
Prinzen schlang und ihn zu einem Taxi führte.
Sie folgten in dem
BMW.
Die Party fand, wie
sich herausstellte, im Haus von Heinrich Himmler statt, dem Chef
der SS. Kraus schnürte sich die Kehle zusammen, als er das
halbe Dutzend schwarzuniformierter Soldaten bemerkte, die um das
Haus herumpatrouillierten. Durch das Fernglas sah er ein Abzeichen
an ihren Kappen, das er bisher noch nie wahrgenommen hatte: einen
silbernen Totenschädel mit gekreuzten Knochen. Der Kopf des
Todes.
Das große Haus
war
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