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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Davic Pfeifer
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konnte. Wenn sie aufstand und in der Küche ein Buch las, hörte sie kurz darauf Holger barfuß nach ihr suchen. Sie musste sich einfühlsame Fragen nach ihrem Innenleben stellen lassen. Irgendwann kam sie wieder mit ins Bett, gab Holger das Gefühl, ihre Probleme gelöst zu haben, und lag dann die halbe Nacht wach. Sie durfte sich nicht mehr rühren, ohne Gefahr zu laufen, noch mehr von dem erklären zu müssen, was sie nicht erklären konnte.
    Wenn Mert schlief, konnte sie im Schlafzimmer das Licht anmachen, lesen oder direkt neben ihm den Staubsauger anwerfen. Mert schlief weiter, zuckte, brummte, manchmal sprach er unverständlich.
    Nadja stellte sich vor, wie er Kämpfe bestritt, keine Boxkämpfe, sondern Schlachten mit dem Breitschwert, wie in »Braveheart«. Sie betrachtete seinen Rücken, der breit neben ihr aufragte, und fragte sich, ob Mert einfach in der falschen Zeit zur Welt gekommen war. Sie konnte sich ihn nicht an einer Computertastatur vorstellen. Diese ganze Kraft, die in einem Büro verschwendet wäre und auch sonst nirgends nützlich war, außer in den wenigen Jobs, die für Männer wie ihn noch existierten. Türsteher, Boxer, er hätte auch Menschen in einer Zirkusmanege herumwirbeln oder Tänzer werden können. Er gehörte einer aussterbenden Art an, und wenn er so neben ihr lag und sich irgendwohin träumte, wo seine Fähigkeiten nützlich waren, dann hatte Nadja das Bedürfnis, ihn zu beschützen.
    Mert war ein Krieger in einer Welt, die für Krieger keine Verwendung mehr hatte. Er gehörte auf ein Pferd, ein Fell über die Schultern. Er hätte tagelang reiten können. Er sollte jagen, erlegen, er war nicht dafür ausgelegt, hundert Jahre alt zu werden und im Schaukelstuhl zu sterben. Seine Eleganz und Klugheit waren körperlich. Er fasste Nadja nie falsch an, er machte keine ungeschickten Bewegungen. Hunde und Katzen rollten sich zu seinen Füßen ein, sie suchten die Nähe seiner Kraft und Geschmeidigkeit. Was hätte man mit seinem Talent, seiner Energie und seinem Mut in anderen Zeiten alles anfangen können?
    Noch Anfang des 19. Jahrhunderts, als Boxkämpfe keine Rundenbegrenzung kannten, hätte Mert durch die Städte reisen und die Stärksten herausfordern können. Keiner hätte es länger im Ring ausgehalten als er. Doch irgendwann wurde eine maximale Kampfdauer festgelegt und später die Punktwertung, die es möglich machte, dass ein schwächerer Kämpfer siegreich war, weil er sich geschickter verhielt. So als würde nach einem Fußballspiel, das ohne Tore endet, die Mannschaft zum Sieger erklärt, die technisch besser gespielt hat. Kein Wunder, dass Mert Mike Tyson bewunderte, der es selten den Punktrichtern überlassen hatte, ein Urteil über ihn zu fällen. Die Zivilisation arbeitete gegen Mert. Regeln, Schutz, Sicherheit. All das, was vielen diente, war für ihn hinderlich. Er ragte aus einer anderen Zeit ins Heute.
    Wenn sie nachts neben ihm lag, stellte Nadja sich vor, dass Mert von einer Welt wie vor fünfhundert Jahren träumte. Eine Welt, in der ein Mann wie er König sein konnte. Und sie fragte sich, ob Mert deswegen so tief schlief, weil er lieber in dieser anderen Welt blieb.
    Nadja weckte Mert erst, wenn sie zur Arbeit ging, versuchte aber möglichst früh nach Hause zu kommen. Sie schliefen miteinander, Nadja kochte, sie aßen, sie redeten. Nadjas Wohnung wurde ihr Lebensraum. Sie gingen nur raus, wenn es sich nicht vermeiden ließ, sie zur Arbeit, er zum Training und zu seiner Schicht im Hans-Albers-Eck, einer Kneipe auf St. Pauli. Sie teilten die diebische Freude, ohne Kontrolle der Eltern ein eigenes Leben zu führen, eines, in dem man nachts um drei vor dem Fernseher Pfannkuchen mit Nutella essen konnte, in dem man nackt in der Wohnung herumlief, einfach weil es ging. In dem man am Wochenende bis mittags im Bett liegen blieb oder auf der Fensterbank saß, ohne ermahnt zu werden. Nadja liebte das Lied »Breakfast at Tiffany’s«, also hörten sie es hundert Mal und mehr. Wenn es zu Ende gelaufen war, drückte einer der beiden es wieder auf Anfang, und sie tanzten dazu, im Wohnzimmer, in der Küche, im Bad. Nadja fühlte sich privilegiert, den harten Mert, die Killermaschine des BC Einigkeit, nackt in Badelatschen tanzen zu sehen, während er »I say what about Breakfast at Tiffany’s, she said I think I remember the film« sang, wobei sich das Ganze ein bisschen nach einem Taubstummen anhörte, da er die englische Sprache nicht verstand. Doch mit Mert gab es nichts,

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