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Schlag weiter, Herz

Schlag weiter, Herz

Titel: Schlag weiter, Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Davic Pfeifer
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was unangenehm oder peinlich war. Mert wiederum fühlte sich, als habe er ein Stück vom Glück abgebissen und müsste schwer daran kauen.
    Freitag und Samstag arbeitete Mert nachts als Türsteher. Nadja hatte ihm einen Schlüssel gegeben, damit er sie nicht wecken musste, wenn er im Morgengrauen nach Hause kam. Manchmal wachte sie trotzdem auf, und sie redeten.
    Mert blieb auch bei ihr, als Nadja mit einer Pille im Bauch nach Hause kam, die den Embryo abtöten würde, den sie in sich trug. Mert blieb drei Tage und Nächte, ließ sein Training ausfallen und sagte seine Schicht im Hans-Albers-Eck ab, weil es ihr schlecht ging. Er nahm sie in den Arm, nachdem sie von der Toilette zurückkam, wo sie etwas losgeworden war, was ein Teil von ihnen hätte werden können. Er brachte ihr Wasser, wenn sie durstig war, und versuchte sogar, für sie zu kochen. Er fragte, ob sie Gewissensbisse habe, aber Nadja antwortete nur: »Ein Leben beginnt nicht mit der Zeugung, genauso wenig wie es mit dem Tod endet.«
    Mert servierte ihr zerkochte Nudeln mit einer gewürzten Tomatensoße, die er aus der Dose in die Pfanne geschüttet hatte. Es schmeckte schauderhaft. Über so viel Unvermögen musste Nadja lachen. Zum ersten Mal seit Tagen.
    »Mein Leben hat erst angefangen, seit wir uns kennen«, sagte Mert, während er in den Nudeln herumstocherte, die er selbst kaum essen konnte. Je länger er über diesen Satz nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass er die Wahrheit gesagt hatte, dass diese Worte nicht zu Nadjas Trost gedacht waren.
    Nadja räumte ihm Fächer in ihrem Schrank frei. Mert brachte nicht viel mit: Unterwäsche, Sportsachen, Jeans, eine dicke Jacke, eine dünne Jacke und zwei Big-Jim-Figuren, kleine Muskelmänner aus Plastik, bei denen sich der Bizeps spannte, wenn man den Gummiarm abknickte. Eine Mechanik im Rücken ließ ihre Arme nach vorne schnellen. Es gab Cowboy-Big-Jims, Soldaten-Big-Jims, Piraten-Big-Jims, aber Mert besaß zwei Boxer-Big-Jims. Als Kind hatte er tagelang mit ihnen gespielt. Wegen seiner Liebe zu diesen Figuren war Mert überhaupt so begeistert von der Idee gewesen, zum Boxen zu gehen.
    Wenn Nadja ihn dabei beobachtete, wie er seinen rechten Arm abknickte, um die Spannung seines Bizeps zu begutachten, nannte sie ihn »Big Jim«, und Mert ließ ertappt den Arm sinken.

15
    Mert ist aufgewacht. Er geht in die Küche, bringt Wasser zum Kochen und gießt es über eine Portion Nescafé, die er zuvor in die Tasse gestreut hat, die noch vom Vortag in der Spüle steht. Dann nimmt er sich seinen schwarzen Knetball, geht raus auf den Balkon, lehnt sich über das Geländer, pustet in die Tasse und blinzelt in die Sonne. Das Meer hat sich heute besonders weit zurückgezogen. Als der Tsunami sich damals anbahnte, waren die Tiere ins Landesinnere geflohen, ganz von selbst. Sie hatten ein Signal empfangen, dass es klüger wäre, sich in Sicherheit zu bringen. Nur die Menschen hatten nichts gemerkt. Auch damals hatte sich das Meer besonders weit zurückgezogen. Allerdings nicht an der Stelle, an der das Haus steht, in dem Mert wohnt, sonst wäre es jetzt nicht mehr da. Hier ist nichts für die Ewigkeit gebaut.
    Mert geht wieder rein, macht seine Liegestütze und seine Bauchaufzüge vor dem Ventilator. Er zieht sich ein frisches T-Shirt, seine Sporthose und Socken an, geht die Treppe runter und schlüpft unten in seine Laufschuhe, in deren Profil noch der Sand steckt, den er nicht mit in die Wohnung tragen will. Er möchte der Alten, die bei ihm putzt, nicht unnötig Grund zum Meckern geben. Dann geht er über die Straße an den Strand und trabt los. Er sucht sich eine Bahn, wo der Sand nicht mehr matschig ist, aber noch nicht so trocken, dass er zu tief einsinkt. Es ist anstrengend, im Sand zu laufen. Obwohl Mert sich seit Jahren fast jeden Tag schindet, sucht er innerhalb dieser Quälerei nach kleinen Erleichterungen, mit denen er sich selbst ein bisschen Großzügigkeit gönnt.
    Früher hatte er auch stets den Aufzug genommen, anstatt Treppen zu laufen.
    »Wieso gehst du nie Treppen?«, wollte Nadja wissen, als er sogar im Ärztehaus, in dem sie gemeinsam bei ihrer Frauenärztin waren, den Fahrstuhlknopf drückte, obwohl die Praxis im 2. Stock lag.
    »Zu faul.«
    »Das ist nicht logisch, das ist dir klar, oder?«, war Nadjas Kommentar.
    »Total logisch. Ich ackere doch sonst genug, da darf ich die Treppen auslassen.«
    So läuft er jetzt also auf dem Stück Strand, das am härtesten ist, und motiviert sich mit dem

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