Schlag weiter, Herz
öffnet die Fenster, stellt den Ventilator an, hält seinen Kopf unter die Dusche und setzt sich in Unterhose auf seinen Balkon, mit einer letzten Dose Bier, die er noch im Kühlschrank gefunden hat. Er isst eine Tüte M&Ms-Schokonüsse, knetet seinen schwarzen Ball mit der rechten Hand und betrachtet den halbvollen Mond. Ab und zu knattert ein Moped oder ein Tuktuk vorbei, ansonsten ist es nachts ruhig, so weit draußen vor Patong. Der Irrsinn sammelt sich um die Hauptstraße, dort wo die Roller stehen, vor den Restaurants, in denen jeden Tag Tonnen von Fisch gebraten und gegessen werden und jede Woche Tausende neue Gesichter ankommen und wieder verschwinden. Nach einem Abend bei der Mamasan fühlt Mert sich verloren, wenn er an die vielen Menschen, die Fische und die Mopeds denkt. Und dabei sieht er nur dieses Planquadrat, diesen kleinen Ausschnitt der Welt, so klein wie Bahrenfeld, dass Hamburger Viertel, in dem er aufgewachsen ist. Mert fragt sich häufig, wo diese Menschen alle herkommen, wo sie wieder hinfliegen. In Länder, von denen er gehört hat oder auch nicht. Die er mal sehen wollte, aber nie sehen wird. Und wie kann überhaupt noch ein Fisch im Meer schwimmen, wo sie jeden Tag so viele rausziehen?
Nadja hatte ihm erklärt, dass die Erde fast nur von Wasser bedeckt sei, Land gebe es im Verhältnis dazu nur sehr wenig. Da wollte Mert noch die Welt entdecken, in den USA boxen. Aber Nadja meinte, wenn er die Welt kennenlernen wolle, müsse er eigentlich zur See fahren. Seine kluge, merkwürdige Nadja. Als sie ihn später kränken wollte, sagte sie, dass er doch endlich losfahren solle, wohin auch immer, anstatt nur davon zu träumen. Da hatte Mert schon so viele Jahre geglaubt, alles später noch machen zu können, bis sogar später vorbei war.
Mert wird nicht müde, da hilft weder das Bier noch die Brise. Sein Herz schlägt schon schneller, wenn er nur an den nächsten Kampf denkt. Er kennt das schon so lange, diese Aufregung, die in den kommenden Tagen noch zunehmen wird, auch wenn er noch so sehr versucht, sie zu ignorieren. Wie Zahnschmerz, den er ertragen muss, bis er sich schließlich auf den Zahnarzt freut.
Er legt sich ins Bett und nimmt eines der Bücher, die er auf der Straße nach Patong in einem Laden gefunden hat, der liegen gelassene Bücher von Touristen in Folie gewickelt zum halben Preis anbietet. Mert hat dort zwei Bücher gekauft, die Nadja besonders mochte: »Das Parfum« und »Das Hotel New Hampshire«. Sie hatte ihm die Bücher damals zu lesen gegeben, aber Mert konnte sich nie dazu aufraffen. Er hat es immer noch nicht geschafft, hat beide angefangen und wieder weggelegt. Beim Lesen wird ihm langweilig, immer wieder muss er neu ansetzen und wird schnell müde. Er nimmt sich »Das Parfum«, kann sich aber nicht mehr an die Geschichte erinnern. Er beginnt von vorn und schläft schnell ein.
14
Mert hatte sich bei Nadja eingenistet. Er blieb einfach, und sie mochte es. Vor allem mochte sie die Nächte. Wenn Mert schlief, arbeitete etwas in ihm. Nadja konnte es an seinen Bewegungen im Schlaf ablesen, an der Art, wie seine Schultern zuckten. So wie ein Pianist ein Lied im Kopf üben kann, weil ihm die Bewegungen der Finger in die synaptischen Verbindungen übergegangen sind, so übte Mert im Schlaf Kombinationen und Angriffe. Manchmal kontrahierten seine Muskeln schwach, weil sie Signale bekamen. Wenn er besonders wild träumte, dann schlug er eine angedeutete Führhand, wurde allerdings wieder ruhig, wenn Nadja ihm über den Nacken strich oder sich von hinten an ihn schmiegte. Mert schwitzte sein T-Shirt durch und die Bettdecke. Nadja weckte ihn auf, sagte ihm, dass er ein trockenes T-Shirt anziehen solle, was er tat, ohne sich am nächsten Tag daran erinnern zu können. Morgens standen seine Haare wüst ab, weil er sich mit dem Kopf in sein Kissen gebohrt hatte. Er träumte auch ruhiger, brummte im Schlaf, lächelte manchmal. Wenn er eine Erektion bekam und Nadja es bemerkte, fasste sie danach wie nach einem Zepter.
Nadja fragte sich, was Mert wohl erlebte, wenn er schlief. Es schien so viel zu passieren, während er im wachen Zustand nicht durchblicken ließ, was ihn beschäftigte. Weil er es vermutlich selbst nicht wusste. Wenn Mert schlief, schien ein anderer Mensch neben Nadja zu liegen, eingeschlossen in seinen Träumen.
Bei den Männern, mit denen sie vor Mert zusammen gewesen war, hatte Nadja darunter gelitten, dass sie häufig nachts wach wurde und nicht mehr einschlafen
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