Schlag weiter, Herz
Gedanken, dass jeder Schritt abgefedert wird, sein Gewicht nicht voll auf die Fuß- und Kniegelenke durchschlägt, wenn er sich abgestoßen hat und wieder landet. Er korrigiert seine Rückenhaltung. Mert neigt dazu, seinen Oberkörper nach vorne zu lehnen, so als würde er leichter laufen, wenn er sich halb nach vorne fallen lässt. Ali hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, wenn sie gemeinsam liefen. Seitdem korrigiert Mert seine Haltung alle paar Minuten und versucht möglichst aufrecht zu laufen, was ihm spätere Rückenschmerzen erspart.
Er läuft und denkt nach, immer weiter, und irgendwann hat er den Kopf frei. Er sieht dem Hund nach, der voransprintet und sich wieder zurückfallen lässt, nur um erneut loszupreschen, einen Geruch zu entdecken, sich daran festzuschnuppern, sich zurückfallen zu lassen und wieder aufzuschließen. Mert läuft und denkt an nichts. Oder nur daran, dass er, wenn er den Lauf hinter sich gebracht hat, die Pflicht für heute schon erledigt hat. Dass er sich noch einen Kaffee machen oder sich noch mal hinlegen kann. Zur Massage will er heute nicht, die ist erst morgen wieder dran. Aber er könnte sich ein paar neue Filme besorgen oder mal wieder die »Phuket News« lesen, um seine Englischkenntnisse zu testen. Er legt noch ein bisschen Tempo zu. Je schneller er läuft und je härter er sich schindet, umso entspannter kann er den restlichen Tag verstreichen lassen.
Er sprintet etwa hundert Meter am Strand entlang und wird dann wieder langsamer, um seinen Puls und seinen Atem zu beruhigen. Sobald er gleichmäßig tief Luft einsaugen kann und sein Herz normal schlägt, geht er erneut in einen Sprint über, noch ein wenig schneller und ein paar Meter weiter als der letzte. Die Touristen, die am Strand liegen, sehen ihm nach. Sie wundern sich, warum sich einer am Strand quält, wo doch alle Welt hier Entspannung sucht. Mert ist es egal, er sieht diese Menschen nie wieder. Er erreicht den ersten Felsen, der trotz Ebbe weit ins Wasser hineinragt. Er läuft bis zum Aufstieg, den er mit großen Schritten nimmt. Er muss sich mit den Händen abstützen und hochziehen, um am steilsten Stück hinaufzuklettern. Der Hund nimmt immer einen anderen Weg, er biegt hundert Meter früher ab und erwartet Mert oben. Dort angekommen, läuft Mert fünfzig Meter, um auf der anderen Seite wieder hinabzusteigen. Das zweite Stück des Strandes, das er nun entlangläuft, ist leerer, weil die wenigsten Touristen sich die Mühe machen, mit ihren Strandsachen hierherzukommen. Diejenigen, die hier liegen, schauen ihm dafür umso konsternierter hinterher, so als würde er durch ihren Vorgarten laufen. Mert läuft weiter zum zweiten Felsen, der weniger steil aufragt als der erste. Zwei Zwischensprints legt er ein. Das ist der Takt, den er hinbekommt, zwischen Beschleunigung und aktiver Erholung, bevor er den zweiten Felsen erreicht, den er etappenweise hochhüpfen kann. Der Anstieg ist steil, aber nicht so steil, dass er seine Hände zum Festhalten bräuchte. Auf der anderen Seite des Felsens zieht sich das nächste Strandstück endlos dahin. Die Strecke bis zum zweiten Felsen ist für Mert jedes Mal das Minimum, ab da darf er umdrehen. Heute läuft er noch einen halben Kilometer weiter und macht einen Zwischensprint. Dann erteilt er sich selbst die Erlaubnis, wieder zurückzulaufen.
Auf dem Rückweg trabt er nur noch locker. Er kann die Menschen am Strand beobachten, die sich dort kleine Forts bauen, aus Schirmen und Liegestühlen und Tragetaschen und kleinen Tischen, auf denen sich Zigarettenschachteln und Drinks befinden.
Vor ein paar Wochen hatte er hier eine Deutsche kennengelernt, Sabine. Als er zum zweiten Mal an ihr vorbeilief, winkte sie ihm zu. Sie lächelte nett, und Mert blieb stehen. Es waren ohnehin nur noch wenige Meter bis zu seiner Wohnung.
Sabine war etwa vierzig Jahre alt, sehr klein, durchtrainiert und freundlich. Der erste Mensch, mit dem Mert ein paar vernünftige Sätze wechselte, seit Ali abgereist war.
»Was machst du denn hier?«, hatte sie gefragt.
»Laufen.«
»Das sehe ich. Aber machst du Urlaub?«
»Nein, ich lebe hier.«
Sabine war alleine in Urlaub gefahren und langweilte sich in der Hütte, die sie günstig gebucht hatte. Abends besuchte sie Mert. Die beiden saßen auf dem Balkon. Sie trank Bier, er Wasser.
»Wettkampfvorbereitung«, hatte Mert fast entschuldigend gesagt. Er hoffte, dass dies auch als Erklärung genügte, warum er nicht an mehr interessiert war als an einem
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