Schlagmann
Ruderverein ein paar Kilometer von hier. Willst du nicht mal zu einem Probetraining kommen?«
»Ein Doktor?«
»Ja«, sagte er. »Seelendoktor.«
Ich steckte die Karte ein. Dr. Wissmann sagte, ich solle jetzt nach Hause gehen, es sei schon spät.
Als ich meiner Mutter von dem Ruderverein erzählte, war sie begeistert, kaufte mir umgehend einen großen schwarzen Trainingsanzug und fuhr mich schon am folgenden Wochenende hin. Es war ein sonniger Tag, und das Gras am Flussufer leuchtete. Wir gingen direkt zum Bootssteg, und meine Mutter zeigte auf einen Einer, der gerade anlegte. Das Wasser gluckerte und roch frisch. Ein Typ mit einer Schirmmütze auf dem Kopf kletterte auf den Steg. Er war groß und breitschultrig, trug ein einteiliges Rudertrikot und weiße Socken, die Schuhe waren im Boot festgemacht. Ich stand nicht weit von ihm entfernt und starrte ihn an. Der Ruderer fuhr rasch in ein paar blaue Plastikschlappen und riss sich die Träger seines Trikots herunter. Plötzlich sammelten sich ein paar Leute auf dem Steg und jeder schüttelte ihm die Hand. »Gratuliere zum Titel«, sagte einer und klopfte ihm auf die Schultern. Ein älterer Mann beugte sich zu mir herunter und sagte: »Das ist Michael Kuhn, der deutsche Meister.«
Kuhn ließ sich auf einen Campingstuhl fallen, der am Rand des Stegs stand. Er streckte die Beine von sich, und ich sah seinen leicht behaarten Bauch, der glatt war und nur aus Muskeln bestand. Auch jetzt, da Kuhn saß, bildete er kaum Falten. Ich starrte ihn immer noch an, so lange, bis Kuhn es spürte. Er schaute mich an und sagte: »Na, Pummelchen, willst du auch so einen Bauch?«
Ich nickte.
Herr Wissmann kam, begrüßte meine Mutter, brachte mich zu einem der Trainer, und ich wurde Ruderer. Es war meine Rettung.
33 Jahre liegt das zurück, dazu unendlich viele Kilometer zu Wasser und zu Lande, und Wissmann hatte recht: Ich wurde groß und kräftig, und es gab Zeiten, in denen mein Bauch keine einzige Falte bildete, auch im Sitzen nicht. Der Sport war jahrelang der Mittelpunkt meines Lebens, der Klub mein zweites Zuhause, die Ruderer waren meine zweite Familie, hier lernte ich alles, was ich brauchte: Disziplin und Saufen, Vertrauen und Durchsetzungsvermögen, wie man Freunde gewinnt und verliert, wie man ein Stück Fleisch grillt, wie man angibt und andere auslacht und über Weiber redet. Eins steht fest: Wenn die Welt ein Ruderverein wäre, käme ich bestens mit meinem Leben klar. Aber leider war nur meine Jugend ein Ruderverein.
Und jetzt erscheint plötzlich Paco Müller aus meiner Vergangenheit, mit diesem altmodischen Kassettenrecorder, und ich soll erklären, welchen Sinn das alles hatte? Du willst die Wahrheit über Arne aufdecken, und ich soll dir das alles erzählen? Anekdoten aus meiner Kindheit erzähle ich dir gern. Aber das? Viele Gesprächspartner wirst du nicht finden für dein Projekt. Und du hast Glück, dass ich dich nicht weggeschickt habe, wie die anderen das tun würden. Wir haben damals beschlossen, über alles zu schweigen, was Arne angeht. Wir wollen ihn schützen, und nicht nur ihn. Auch seine Familie, unseren Trainer, und natürlich uns selbst. Ich habe sie angerufen, alle sieben, und sie gefragt, was sie von deinem Vorschlag halten, die alten Geschichten noch einmal aufzurollen. Sie wollten nicht. Wenn Anja nicht wäre, hättest du keine Chance. Und Konstantin, der bis heute unser Denker geblieben ist. Er sagte in seiner abwägenden Art, dass natürlich alle recht hätten. Dass wir beschlossen hätten zu schweigen. Und dass das richtig war. Aber er fand,dass die Lage sich geändert hatte. Er sagte: »Einer muss unsere Position vertreten. Sonst überlassen wir das Feld einer Frau, die von außen kam, und wahrscheinlich bis heute nicht versteht, was damals geschehen ist.« Als Bugmann hat er schon immer unser Boot ausbalanciert. Es wundert mich nicht, dass er heute Personalvorstand in einem Konzern ist. Er sagte, ich müsste es machen, weil ich schon immer am meisten geredet hätte. Und weil ich lange Zeit sein Zweierpartner war.
Es stimmt ja, ich war immer die Schwatzbacke im Boot. Aber er hat keine Ahnung, was er da von mir verlangt hat. Ich will es trotzdem versuchen. Und vielleicht ergibt sich dabei die Gelegenheit, Anja wiederzusehen.
ALI,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Dienstag, 25. März 2008
Du warst dabei, Paco. Das einzige, was uns noch schlimmer erschien, als dieses Rennen zu fahren, war die Vorstellung, dieses Rennen nicht zu
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