Schlagmann
fahren. Keine Macht der Welt hätte uns davon abhalten können, uns diesem Stress auszuliefern, dieser Überdehnung der Willenskraft. Wir glaubten an gute und schlechte Omen. Ganz nach dem Motto: Wenn etwas mies anfängt, kann es nicht gut enden. Entsprechend war die Stimmung im Boot, als plötzlich das Stemmbrett an Arnes Platz wackelte. Es hing an einer Seite nur noch lose an seiner Schraube, ich sah es, weil ich an Position sieben gleich hinter ihm saß. Arne auf seinem Platz und der Bootsmeister, der sich bäuchlings auf den Steg gelegt hatte, wühlten hektisch im Bootskörper herum, doch verdammt, die Mutter für die andere Schraube war weg. Wir trieben auf dem Wasser und riefen einander zu, was passiert war.
Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Ziellose Hektik, ratloses Kopfschütteln. Mir wurde übel. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, meinen Riemen aus dem Wasser zu halten, tief zu atmen und über den Fluss zu schauen, der kleine Wellen schlug. Ich sagte mir, spar deine Kräfte – aber es funktionierte nicht. Ich konnte das Händezittern nicht beherrschen. Es ging um alles, was wir uns ein Jahr lang herbeigesehnt hatten. Wir hatten die letzten 14 Rennen gewonnen, und dieses hier wollten wir auch gewinnen. Gerade noch hatte ich dem amerikanischen Schlagmann herausfordernd zugezwinkert. Jetzt feixte er wahrscheinlich schon.
Little, unser Steuermann, sprang aus dem Boot und sauste davon zum Stand der Bootswerft. Wir hätten schon längst aufdem Wasser draußen sein müssen, aber mit einem losen Stemmbrett konnte unser Schlagmann seinen Job nicht machen. Olympia war so gut wie vorbei für uns. Ich wusste, jeder Einzelne im Boot hätte am liebsten gekotzt. Bis auf Arne vielleicht.
Aber dann kam Little wieder angerannt auf seinen dünnen Beinen, vor lauter Aufregung rot im Gesicht, und hielt triumphierend die rechte Hand in die Höhe. Er hatte die Mutter, der Bootsmeister stellte fest, dass sie passte und schraubte hektisch das lose Teil fest.
Es war das olympische Finale, und wir wussten genau, was uns bevorstand. Wir hatten es schon so oft durchlitten, nur dass es diesmal noch schlimmer sein würde.
Schmerz und Angst.
Man fragt uns immer, wie wir uns fühlen. Oder gefühlt haben. Oder fühlen werden. Ich habe keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Es ist, als hätte man sich freiwillig in einer Folterkammer angemeldet. Bernd Scholz sagte immer, genauso gut könne man sich vornehmen, sechs Minuten lang seine Hand auf eine glühende Herdplatte zu legen. Unser Trainer war selbst ein ehemaliger Champion. Wenn wir vom Boot aus sahen, dass er uns am Steg erwartete, großgewachsen, schwarzlockig, schwerknochig, wussten wir, dass wir uns auf ein Urteil gefasst machen mussten, über das nicht mehr diskutiert wurde. Scholz war absolut erfolgsfixiert und wurde mit den Jahren nicht weicher. Für ihn zerfiel ein Sportler in zwei Teile: Sein Menschsein und seine Leistungsparameter. Scholz interessierten die Parameter.
Normale Menschen könnten ein hochklassiges Ruderrennen nicht heil überstehen. Das Sauerstoffdefizit, in das ein Ruderer regelmäßig im Rennen kommt, überschreitet die Grenze des Erträglichen. Auch der Körper eines toptrainierten Leistungssportlers schlägt schon früh Alarm. Er spürt die Schmerzen und den Protestschrei aller Organe und Nerven, aber er hört nichtauf. Für einen Ruderer fängt das Rennen mit diesem Moment erst an. Er kämpft nicht nur mit dem Wasser, dem Boot und dem Gegner. Er kämpft mit sich selbst, ringt sich selbst nieder. Das Boot zwingt ihm den Rhythmus auf, er sitzt gefangen in einer Presse, die das letzte bisschen Kraft aus ihm herausquetscht. Wenn einer ins Ziel kommt und hat noch irgendwelche Reserven, ist er ein schlechter Ruderer.
Im Ziel ist ein Ruderer klinisch tot. Ausgepowert, ausgebrannt, in Stücke gerissen. Die Lungen können gar nicht so viel atmen, wie der Körper Sauerstoff braucht. Hören und Sehen sind außer Kraft gesetzt, alles verschwimmt, es ist ein hartes Ringen, es fühlt sich wirklich an wie ein Überlebenskampf, wenn man im Boot hängt, und nichts mehr existiert außer den unzureichenden Atemzügen, dem Japsen und der Übelkeit, die den Magen zusammenpresst, und dem Schmerz in den Muskeln und Gelenken. Und der Frage »warum«, die nur mit einem Sieg beantwortet werden kann.
Ich begreife heute nicht mehr, warum ich so weit gegangen bin. Das heißt, ich begreife es weniger denn je. Ich dachte einmal, im Hochleistungssport lernt der Mensch,
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