Schlagmann
ich das Rennen mit Hilfe des Videos erst kennen, und der Fernsehkommentar von damals wurde mir so vertraut, als hätte ich ihn schon während des Finales gehört.
Allerdings verlor ich mit der Zeit den Spaß daran, der Film wirkte immer blasser, und der Unterschied zwischen dem Ali damals und heute wurde größer. Und dann die Vergleiche, die Katja heute ziehen würde. »Warum nimmst du nicht ein bisschen ab und trainierst mal wieder?« Inzwischen ziehe ich es vor, mir keine Bilder mehr von damals anzusehen. Die Zeitungsausschnitte zog meine Frau wieder aus dem Müll. Ich hatte eines Tages einfach keine Lust mehr darauf und sie weggeworfen. Auch an den Arne von damals will ich nicht erinnert werden. Es reicht mir, dass mir mein innerer Arne keine Ruhe lässt.
Wir konnten ja nach dem Sieg leider nicht auf dem Wasser bleiben, sondern mussten ans Ufer rudern und aussteigen, mit unseren Medaillen auf der Brust wie Signallampen: Hier kommen die Größten.
Es dauerte eine Weile, bis wir geistig wieder landen konnten. Besonders Arne. Er war kaum mehr ansprechbar. Alle anderen wollten irgendwann nur noch feiern. Wir sagten: Arne, lach mal, und tänzelten um ihn herum. Wir rissen eigentlich nur noch Witze oder telefonierten mit Zuhause oder quatschten Sportlerinnen an und versuchten, sie zu Partys zu überreden. Arne stand nur still dabei.
So erschöpft wir am Nachmittag noch gewesen waren, so lebendig wurden wir am Abend. Pausenlos waren wir von jetzt an auf der Suche nach anderen Sportlern, die ihre Wettkämpfe auch schon hinter sich hatten. Das war leicht, wir gingen einfach der Musik nach. Wo es stampfte und brüllte und Queen gespielt wurde, da ließen es die Champions krachen.
Auf einem Absatz im Treppenhaus lernte ich zusammen mit Arne, Sam und Konstantin schon am ersten Abend nach unserem Sieg ein paar Australier kennen. Gleichgesinnte. Zwei Boxer, ein Tennisspieler und ein paar Handballer. Sie hatten Bierflaschen in der Hand und noch einen Vorrat auf dem Bodenstehen und gaben uns ab, so viel wir wollten. Sie wussten sogar, wer wir waren, klopften uns auf die Schultern und lachten, stießen mit uns an und befingerten unsere Medaillen. Konstantin reckte die Faust und brüllte, dass es durch das Treppenhaus hallte. Wir anderen standen schwankend am Geländer und hielten uns fest.
»Schlachseite«, sagte Arne und verschwand.
Die Rockmusik aus dem Recorder war so laut, dass wir kaum reden konnten. Wir brüllten sowieso nur noch dummes Zeug. Hauptsache laut. Ich hätte platzen können.
Wenn ich heute ein Fußballspiel besuche und über die Lautsprecher »We will rock you« höre, sehe ich die ganze Szenerie wieder vor mir. Wir springen in die Luft, recken die Fäuste wie die Idioten, aber das musste natürlich sein. Wir hielten uns selbst sogar noch für gesittet.
Mitten in der Nacht tauchte plötzlich ein Offizieller in einem grünen Jackett auf und schrie die Australier an, sie sollten sich schämen, alles was sie könnten, wäre wohl saufen. Sie waren früh in ihren Turnieren ausgeschieden und hatten jetzt offensichtlich kein Recht, sich auszutoben. Und tatsächlich ließen sie auf Ansage ihre Köpfe hängen und sammelten ihr Zeug zusammen. Einer steckte uns noch hastig eine braune Papiertüte zu – dann verzogen sie sich in ihre Apartments. In der Tüte war eine ganze Batterie Schnapsfläschchen – eine Art Korn, wie wir später feststellten. Wir zogen in das Apartment weiter, das Arne und ich mit Sam und Konstantin teilten. Dort hing Arne in einem klebrigen Ledersessel und ließ seinen Kopf baumeln. Ich ging hin und gab ihm einen leichten Klaps auf die Wange, Arne schreckte auf. Die anderen drehten den Fernseher auf maximale Lautstärke, und wir begannen, den Schnaps zu trinken. Einer von uns, ich glaube, es war Pedro, schraubte ein Fläschchen auf und ließ die Flüssigkeit über Arnes Mund laufen. DerSchlagmann reagierte nicht mehr. So sollte es sein. Der Stärkste von uns hatte auch den schwersten Rausch zu haben. Das war Kult.
Nach einer Weile sank ich auf ein unbequemes Sofa und hatte plötzlich das Gefühl, die Wände hätten sich in eine Drehtür verwandelt, in der ich hängengeblieben war.
Wir vertrugen ja alle keinen Alkohol – wir hatten monatelang gelebt wie Babys. Mir war übel, und ich konnte nicht mehr. Für eine Weile schloss ich die Augen und versuchte, die Wellenbewegung in meinem Magen unter Kontrolle zu bringen, doch das machte alles noch schlimmer.
Ich riss meine Lider wieder hoch
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