Schlagmann
und sah plötzlich Arne vor mir, der gebückt in einer wackligen Startposition zwischen zwei Sesseln stand und sich mit den Händen abstemmte. Ein neuer Stoß von Übelkeit packte mich, und ich presste die Hand vor den Mund. Durch eine Wand aus Alkohol sah ich, wie er mit Schwung vorwärts rannte, den Kopf senkte wie ein Stier und direkt auf die Wand zulief. Ich schrie nur noch: »Arne, nicht!« – da hatte er seinen Kopf auch schon mit einem dumpfen Geräusch dagegen gerammt.
Ich sah mich nach Hilfe um. Pedro und Thomas waren noch da, sie standen am Fenster und mussten sich schwankend aneinander festhalten, um nicht umzufallen. Sie glotzten Arne mit großen Augen an, taten aber nichts.
Arne ging zurück in die Ausgangsposition, holte noch einmal Schwung und rannte noch einmal los.
»Nein!«, schrie ich und wollte ihn aufhalten, doch es war wie in einem Alptraum. Ich konnte mich nicht bewegen. Und er war völlig außer sich.
Er rannte noch einmal gegen die Wand, wenn auch weniger heftig als beim ersten Mal, dann sank er zu Boden, von seiner Stirn lief hellrotes Blut herunter. Endlich schaffte ich es, vomSofa aufzustehen, und zu ihm hinüberzugehen. Er saß nun ganz ruhig da.
»Komm Arne«, sagte ich und packte ihn am Arm. »Steh auf.«
Er gehorchte ohne einen Laut und ließ sich von mir zu seinem Bett führen. Mechanisch streifte er seine Turnschuhe von den Füßen und legte sich hin. Ich hastete zur Toilette, um mich zu übergeben.
Wir schliefen bis Mittag. Die Mannschaftsleitung ließ uns in Ruhe, bis wir zur Pressekonferenz aufbrechen mussten. Vorher gingen Arne und ich in den Speisesaal und ließen uns große Wasserflaschen geben. Der Arzt hatte inzwischen kopfschüttelnd seine Stirn versorgt. Arne behauptete, bis auf die Kopfschmerzen vom Alkohol sei er o.k. Natürlich sagten wir nicht, was wirklich vorgefallen war.
»Am Schrank gestoßen«, behauptete Arne, und wir nickten. Arne hatte eine Beule, die er aber unter seinen Haaren verbergen konnte.
ANJA,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Montag, 5. Mai 2008
Wir gingen nebeneinander auf dem schmalen Gehsteig in Richtung seiner Wohnung. Ich schlenkerte ein bisschen mit den Armen und streifte dabei wie versehentlich seine Hand mit meiner. Er hätte nur noch zugreifen müssen. Er aber tat das Gegenteil, er zog seine zurück, und ich spürte, wie sein ganzer Körper sich verspannte. Vor seiner Haustür angekommen sagte ich: »War nett.«
Er hob leicht die rechte Hand zur Andeutung eines Grußes und murmelte unbeholfen: »Tschüs«, griff in die Tasche seiner Sporthose und kramte einen Schlüssel hervor.
Ich trat noch einmal näher und legte die Hand auf seine rechte Schulter. Er fuhr herum und fragte:
»Was ist denn noch?«
»Leihst du mir deine Motorradjacke?«
Er machte ein entsetztes Gesicht.
»Die Jacke? Du spinnst ja.«
»Dann gib mir etwas anderes.«
Plötzlich schien seine Anspannung nachzulassen.
»Etwas anderes?«
War das ein Schmunzeln? Ich legte eine Hand in seinen starren Nacken, so lange, bis er sich ein Stück hinunterbeugte, und küsste ihn vorsichtig auf den Mund. Seine Lippen waren glatt und kühl wie Kiesel.
Zu meiner eigenen Verwunderung war ich nicht beleidigt, als er seinen Kopf wegdrehte. Ich zog ihn am Ohr wieder gerade und küsste ihn noch einmal, intensiver. Und diesmal ließ er es sich gefallen, sein Körper blieb hölzern, aber er legte eine Handauf meinen Rücken. Plötzlich hörte ich einen leisen Seufzer, und ich war sicher, dass dieser Seufzer von ganz innen kam. In diesem Moment, so glaubte ich, hatte zum ersten Mal der wirkliche Arne zu mir gesprochen. Ich dachte: Ich habe ihn.
Abrupt ließ er mich los und ging hinein.
Nichts sonst. Kein »Danke für den netten Abend« und erst recht keine Frage, ob wir uns einmal wiedersehen könnten.
Trotzdem nahm ich mir vor, die Ruderweltmeisterschaft in den Medien zu verfolgen, schaffte es dann aber nicht. Stattdessen fuhr ich spontan mit einer Freundin in die Provence und an die Côte d’Azur in die verschiedenen Kunstmuseen, wir sahen uns die Bilder von Leger, Picasso und Chagall an, wohnten in einem Jugendhotel und tranken abends in den kleinen französischen Bars ziemlich viel Wein und bändelten mit Männern an. Wir machten Fotos und räkelten uns in der Sonne, es war noch viel Zeit bis zum nächsten Semester.
Nach meiner Rückkehr dauerte es eine ganze Weile, bis ich mich wieder auf Arne besann. Er hatte mir nicht gefehlt. Im Grunde fiel er mir erst wieder
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