Schlagmann
Stimme, er musste mit den Tränen kämpfen, und ich habe ihm ein Papiertaschentuch herübergereicht. Als wäre nicht er der Arzt, sondern ich. Ich mag Alis robusten Humor und seine flotten Sprüche. Doch je länger er erzählt, desto weniger funktioniert sein Gute-Laune-System.
Anja ist beherrschter. Ich vermute, dass hinter ihrer Kühle ein aufbrausendes Temperament steckt, aber sie kann sich gut zusammennehmen. Sie versucht selbst immer wieder zu begreifen, was sie eigentlich an Arne so gefesselt hat. Bis heute scheint sie zu glauben, sie hätte ihn retten können, wenn sie den Schlüssel zu ihm gefunden hätte.
Es zieht mich zu den beiden hin. Anja besuche ich in ihrem Büro in der Bank. Jedes Mal lässt sie sich von ihrer Sekretärin einGlas Prosecco hinstellen, trinkt aber nur sehr wenig davon. Ali treffe ich in seinem langweiligen Wohnzimmer, seine Familie zieht sich sich leise zurück. Montag ist Anja-Tag, Dienstag spreche ich mit Ali, sofern es klappt. Mit beiden muss ich jedes Mal lange nach dem nächsten Termin suchen, und ich habe Glück, wenn sie nicht absagen. Manchmal sind sie so mitteilungsbedürftig, dass ich irgendwann von mir aus abbrechen muss. Mittlerweile stellt sich ein neues Phänomen ein: Sie möchten gerne herausfinden, was sie jeweils übereinander gesagt haben. Das machen beide ganz beiläufig, nur so beim Mantelablegen oder beim Kaffee-Einschenken. Ich beruhige sie immer mit den gleichen Worten: nur Nettes.
Ich bin gespannt, was bei diesem Supertramp-Konzert passiert ist. Einer von ihnen wird von selbst davon anfangen, das spüre ich. Sie haben Schuldgefühle deswegen.
Die unbespielten Kassetten, die ich noch hatte, sind inzwischen voll. Leider habe ich feststellen müssen, dass es keine neuen mehr zu kaufen gibt. Sie werden definitiv nicht mehr hergestellt. Darum musste ich dazu übergehen, meine Kassetten aus dem Archiv zu holen und zu überspielen. Zum ersten Mal wird mir klar, wie angenehm es sein kann, Vergangenes einfach auszulöschen.
Was ist wahr, und was ist falsch? Meine Lebenserfahrung bringt zwar nicht unbedingt die höchsten Weisheiten hervor. Aber eines ist mir klar: Jeder trägt seine eigene Wahrheit mit sich herum, über die man nicht zu streiten braucht. Die Welt besteht aus einem großen Durcheinander von Interpretationen, die keiner entwirren kann. Ich habe aufgehört, an objektive Aussagen zu glauben. Die letzten Nächte habe ich schlecht geschlafen. Meine Gedanken lassen mich nicht zur Ruhe kommen.
Nur eines steht fest: Arne spricht aus einer fremden Welt zu uns. Und ich werde dafür sorgen, dass er gehört wird.
ANJA,
Zusammenfassung einer Tonbandaufzeichnung, Montag, 23. Juni 2008
Arne musste zu einer Familienfeier nach Hause fahren.
Ich sagte:
»Ach was, du hast Familie?«
Er nickte.
Ich wartete darauf, dass er mich fragen würde, ob ich mitkäme, aber es kam nichts mehr.
»Ein Geburtstag?«, fragte ich zaghaft.
Er winkte ab. »Nicht der Rede wert.«
Arne war noch verschlossener als früher. Er brütete düster vor sich hin.
»Dann muss ich mir einen anderen Begleiter für das Supertramp-Konzert suchen.«
Er sagte:
»Denn man tau.«
Die Weltmeisterschaften waren vorüber, und ich glaube, Ali und Arne hatten keinen Kontakt mehr. Ich fand das schade, ich hätte gerne einen Grund gehabt, Ali manchmal zu treffen. Aber Arne war sauer auf ihn, weil er ihm seinen Platz als Achter-Schlagmann weggenommen hatte. Ich dachte zwar insgeheim, dass der Trainer sicherlich wusste, was er tat. Aber ich sah, wie Arne darunter litt. Nichts konnte ihn über den Verlust hinwegtrösten. Ich fand es verrückt, Entscheidungen, die einen Menschen so fertigmachen können, an Ergebnissen, Ranglisten und Medaillenwertungen festzumachen.
Ich habe nie verstanden, wieso sich eine Gesellschaft ein solches Leistungssport-System leistet. Manche Sportler mögen besonders sympathisch sein. Sie sind keine Feiglinge und könneneine Menge aushalten. Und sie bringen Action und Spannung ins Fernsehprogramm. Vielleicht wären manche Leute selbst gerne solche Helden. Aber sie haben keine Ahnung, wie hart dieser Verdrängungswettbewerb wirklich ist. Was für eine Maschinerie, die Menschen wie Waren verbraucht. Und hinter all dem stecken für mich nur fremde Interessen, staatliche und wirtschaftliche.
Es wird Geld dafür bezahlt, dass talentierte junge Menschen sich im Sport quälen. Sie sind das Material für Kampagnen. Für Marketingexperten, die hoffen, über sie ihre Produkte besser
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