Schlagmann
Hunderte, nein Tausende von Sportberichten, Reportagen. Porträts, Hintergrundgeschichten, Glossen, Kommentaren – alles, was ein Journalist in seinem Berufsleben so produziert. Vieles ist mittlerweile überholt. Einige der Personen, die irgendwo, irgendwann einmal einen Rekord gebrochen haben oder als Dopingsünder geschnappt wurden, leben schon gar nicht mehr. Aber es kann nicht schaden, das alles aufzubewahren.
Eine Zeitlang habe ich gehofft, meine Tochter würde sie eines Tages lesen wollen, doch wahrscheinlicher ist, dass sie die kompletten Ordner einfach in den Papiercontainer werfen wird. Bis dahin aber bleiben sie zusammen, und ich lasse manchmal meine Blicke über die mit Kugelschreiber beschrifteten Rücken schweifen, und manchmal sprechen sie zu mir. Hier habe ich, 20 Jahre nach seinem Olympiasieg, 17 Jahre nach dem Gewinn des Weltmeistertitels, einen Silberteller geputzt. Und dann meine Berichte über Arne Hansen wieder herausgesucht.
Neben den Ordnern steht eine Reihe mit Tonband-Kassetten. Einst haben wir damit stümperhaft Musikstücke im Radio mitgeschnitten. Ich habe mir dann zu Beginn meiner Laufbahn mit Presserabatt ein Aufnahmegerät gekauft. Es war eine gute Wahl. Jahrzehntelang hat mich dieser kleine, primitive Recorder durch die Welt begleitet, und ich muss sagen, er hat immer funktioniert. Mit diesem Aufnahmegerät habe ich unzählige Interviewsmitgeschnitten – alltägliche Frage-und-Antwort-Spiele nach längst vergessenen Bundesliga-Kicks, aber auch Gespräche mit Sportstars. Einige der Kassetten habe ich aufbewahrt. Gespräche, die mir etwas bedeutet haben, mit Boris Becker oder Georg Schwarzenbeck zum Beispiel, obwohl ich sie mir nie wieder angehört habe. Inzwischen ist das Gehäuse des Geräts hier und da ein bisschen zerbeult, an den Ecken ist der Lack abgeplatzt, aber es läuft immer noch, und noch nie ist eine Kassette darin hängengeblieben. Seit ich beschlossen habe, aufzuhören, macht mich das Ding sentimental. Vielleicht werde ich es eines Tages als Beigabe mit ins Grab bekommen.
Es wird wirklich langsam lästig: Schon wieder denke ich an den Tod. Gestern habe ich allein in einer irischen Bar meinen 65. Geburtstag mit ein paar Gläsern Writers Tears auf Eis gefeiert. Das ist ja wohl noch kein Alter zum Ableben. Aber die letzten Wochen sind mir unter die Haut gegangen. Ich gerate langsam ins Schlingern. Schuld daran sind natürlich diese Arne-Hansen-Interviews, die ich in zähen Nachtstunden abschreibe. Sie fesseln mich, und gleichzeitig schrecken sie mich ab. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben.
Wenn meine Blicke heute über meine Ordner wandern, beschleicht mich der Verdacht, alles, was ich da produziert habe, könnte nichts sein als eine absurde Sammlung von Irrtümern. Dann wieder schaffe ich es, die Zweifel zu vertreiben. Mit Arne Hansen hat etwas Grundsätzliches nicht gestimmt. Es gibt genügend gesunde Menschen im Hochleistungssport, die irgendwann ihre Laufbahn beenden und ganz normal weiterleben. Gerade die Ruderer legen oft verblüffende Karrieren hin. Manche schließen ihre Ausbildung in Oxford oder Cambridge ab – und nehmen gleichzeitig am legendären Boat Race auf der Themse teil. Das kann ein einziger seelisch Verstümmelter ja wohl nicht ins Gegenteil verkehren. Trotzdem hat Ali in einem meiner Interviewsgesagt, er habe den Verdacht, der ideale Leistungssportler müsse so sein wie Arne. Einer, der Schmerzen gut findet.
Wo liegt der Fehler in dieser Geschichte? Ich bin noch lange nicht am Ende, ich weiß nicht, ob sie eines Tages einen Sinn ergeben wird. Immer wieder versuchen Anja und Ali, dem Leben ihres Freundes ein Muster abzutrotzen, einen Schlüssel, der ihnen endlich seine wahre Botschaft enthüllt. Beide haben anfangs gezögert. Anja noch mehr als Ali. Beide waren zu Beginn vorsichtig in ihren Aussagen, haben das Thema eingekreist, versucht, sich selbst und Arne vor der Bloßstellung zu schützen. Alle drei hatten wir damit gerechnet, dass die Gespräche nach wenigen Stunden erledigt sein würden. Zwei, drei Treffen hatte ich vorgeschlagen. Doch dann schien die Vergangenheit die beiden wieder mit voller Wucht zu ergreifen, und sie reden und reden, so dass ich mich manchmal schon fühle wie ein Eindringling in eine Welt, für die ich eigentlich keine Zulassung habe. Sie sehen mich längst nicht mehr als Journalisten. Ich kenne das: Zuhörer sind die wahren Therapeuten. Ich darf sie nicht enttäuschen.
Beim letzten Gespräch stockte plötzlich Alis
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