Schlagmann
waren so eine Art Beweisstücke, dass er noch eine Verbindung zur Außenwelt hatte.
Es gab mir zu denken, dass Arne mir niemals Vorwürfe machte wegen der Szene mit Ali. Ich vermute sogar, er hat gar nicht weiter darüber nachgedacht. Er hat mich nicht verstoßen, dazu war ich nicht bedeutend genug. Verstoßen hat er seinen Sport. Das war es, was am meisten zählte. Was ihn am schwersten traf. Dass er verloren hatte.
Fortan irrte er durch die Welt wie ein Entwurzelter. Der Leistungssport war nicht Arnes Untergang und Verderben gewesen, sondern sein Ende als Leistungssportler. Der Sport hat ihn nicht zerbrochen, er kam schon mit vorgezeichneten Bruchstellen dorthin. Ich glaube, dass er im Leistungssport das fand, was ihm im Rest seines Lebens fehlte, eine Identität.
Viel später merkte ich, dass er mir an dem düsteren Morgen bei seiner angeblichen Selbstanalyse das Trauma von Kurt Cobain als sein eigenes verkauft hatte. Die toten Großonkel. Der erhängte Nachbarsjunge. Der Nirvana-Sänger hatte sich erst eine Überdosis Heroin verpasst und sich dann mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen. Arne war sein Fan, vielleicht fühlte er sich sogar wie sein Verwandter. Menschen wie er und Kurt scheinen einander über Raum und Zeit hinweg zuerkennen, und es gibt wahrscheinlich mehr von ihnen, als man glaubt.
Auf dem Regattaplatz blieb der Arne zurück, den alle gekannt hatten. Er ließ ihn liegen wie seinen Schatten, den er schon seit seiner Kindheit hatte am Boden festnageln wollen.
Arne kehrte nicht mehr in den Leistungsbetrieb zurück. Er nahm fortan nicht mehr am Mannschaftstraining teil. Mit dem Trainerstab sprach er nicht mehr. Und als wir zufällig an der Tankstelle seinem Zweierpartner begegneten, duckte er sich im Auto weg. Er kapselte sich völlig ab vom Sport, trainierte aber alleine weiter. Später schaffte er sich ein Fachbuch über die Technik des Abtrainierens an, und er folgte akribisch den Vorschriften. Er war auch in dieser Hinsicht ein großer Sportler.
Ein paar Mal versuchte ich, Ali anzurufen, aber er war nie zu Hause oder nahm den Hörer nicht ab. Ich hatte auch nicht vor, in seine Arme zu sinken. Das Erlebnis im Bootshaus hatte ein schreckliches Gefühl zurückgelassen, mehr als ein schlechtes Gewissen, und Ali stand in dieser Zeit für dieses Gefühl. Ich hatte damals noch keine Ahnung, was sich Menschen in ihren Beziehungen alles antun. Ich hatte eine hohe Meinung von mir selbst, die ich nur aufrechterhalten konnte, wenn ich mich darum bemühte, dass Arne mir verzieh.
Später hörte ich, dass Ali sich eine Rückenverletzung zugezogen hatte und selbst monatelang pausieren musste. Ein anderer Ruderer nahm seinen Platz im Achter ein. Die beiden hatten also einen sinnlosen Zweikampf ausgetragen, bei dem es am Ende zwei Verlierer gab.
Eines späten Nachmittags, etwa zwei Wochen nach dem Zwischenfall, klingelte ich an Arnes Tür. Um mir Mut zu machen, betrachtete ich mein Spiegelbild im Türglas, es war gelungen, ich wirkte wie ein lässiges Zufallsprodukt, genau was ich gewollt hatte. Eigentlich idiotisch, ausgerechnet Arne in einersolchen Phase mit Klamotten beeindrucken zu wollen, es erwies sich ja auch als sinnlos.
Arne öffnete die Tür und sah mich teilnahmslos an. Sein Haar war ungekämmt, er trug eine zerschlissene Jogginghose und sein graues Kapuzentrikot. Ich fragte:
»Willst du mich nicht hereinlassen?«
Keine Antwort. Ich quetschte mich an ihm vorbei durch die Tür. Er kam hinterher und setzte sich vor seinen Bildschirm mit langen Zahlenkolonnen. Im Zimmer war es dunkel, das Summen des Computers klang laut. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, ging ich in die Küche und setzte Teewasser auf. Ich fand ein Päckchen mit Teebeuteln, mehrere Gläser mit Instantkaffee, Zucker fehlte aber. Im Kühlschrank entdeckte ich einen kleinen Rest Milch in einer Papptüte. Sonst war da nicht viel. Ein Becher Margarine, ein Glas Peperoni, eine Plastiktüte mit geschnittenen Brotscheiben.
Ich ging ins Wohnzimmer, wo er immer noch mit vorgebeugtem Kopf an seinem Computer saß und schlug ihm vor, etwas essen zu gehen. »Vielleicht in die Pizzeria, dann brauchen wir nicht mit dem Auto zu fahren.«
Arne schaute kaum auf, hatte meinen Vorschlag aber ganz offensichtlich gehört, denn er schüttelte den Kopf und sagte zu seinem Bildschirm:
»Das brauche ich nicht. Ich habe schon gegessen.«
Diese Behauptung kam mir unglaubwürdig vor, es schien nicht so, als hätte hier in den
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