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Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evi Simeoni
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seiner Jacke und zog ihn sofort wieder zu.
    »Ich bin völlig empfindungslos. Verstehst du das? Wie ein Stück Holz.«
    »Wie ein Stück Holz?«, wiederholte ich.
    »Ja. Ich bin mir selbst fremd, ich bin ein Gegenstand und fühle mich nicht. Ich weiß nicht mehr, ob ich ich bin oder etwas Totes. Der Schmerz verhindert, dass ich verrückt werde. Wenn ich mich nicht schneiden darf, renne ich wieder mit dem Kopf gegen die Wand. Es ist stärker als ich, glaube mir.«
    Kein Mensch war so stark gewesen wie Arne in seinen besten Zeiten. Außer ihm selbst. Mir schoss eine Erkenntnis durch den Kopf: Er hatte so lange trainiert, bis er stark genug war, um sich selbst zu vernichten.
    »Ich kann nicht damit aufhören«, sagte Arne.
    »Ein Psychiater kann mehr für dich tun, als dir das Schneiden zu verbieten. Er hat Erfahrung mit solchen Phänomenen.«
    »Du verstehst das nicht. Ich darf nicht damit aufhören. Ich darf auch nicht zunehmen«, sagte Arne. »Ich darf das nicht. Es reicht schon, wenn ich nur eine ganze Banane esse, und schon werde ich schwerer.«
    »Unsinn«, sagte ich.
    Er ließ sich nicht beirren.
    »Ich kenne mich aus. Mein Körper hat sich längst auf Sparniveau zurückgefahren. Nur durch mein Training behalte ich noch die Kontrolle. Ich kann nicht plötzlich riesige Mengen Kartoffeln und Fett essen, nur weil ein Psychiater mir das vorschreibt. Das geht nicht.« Er räusperte sich. »Und außerdem … Ich habe nicht die Kraft, zu tun, was von mir erwartet wird.«
    An dieser Stelle fragte ich mich, ob ich es weiter mit Argumenten versuchen sollte. Ich dachte an die Auto-Diskussion. Diesmal ging es für ihn um noch viel mehr als 200 Mark. Er hatte sich zu seiner Krankheit bekannt. Doch er hätte das Ziel aufgeben müssen, um das sich sein ganzes Leben zu drehen schien: Die Vermeidung von Essen. Er hätte doch einfach nur essen müssen. Nur essen, seiner natürlichen Triebkraft nachgeben, dann wäre der ganze Spuk vorbei gewesen.
    Ich fragte: »Hast du keinen Hunger?«
    Arne kratzte wieder seinen Ärmel.
    »Doch«, sagte er und schien zu überlegen, ob es sich lohnte, es mir zu erklären. Und wirklich: Nach einer Pause redete er weiter, langsam, nach Worten suchend, aber er redete.
    »Hunger ist etwas Gutes … Er ist mein zuverlässiger Helfer … Manchmal bohrt er laut in meinem Bauch wie … eine gute Black & Decker. Er fräst mich von innen aus und macht mich leicht.«
    Wie auf ein Stichwort fing sein Magen an zu brummen, und er legte seine Hände darauf.
    »Wie hältst du das nur aus?«
    »Ich liege einfach da und höre dem Hunger zu, wie er in mir seine Arbeit macht … Ich will ihn dabei nicht stören.«
    Ich staunte, wie intensiv der große Schweiger sich auf einmal erklärte. Das war neu. Ich war plötzlich davon überzeugt, dass er mich auf seine Weise um Hilfe bat.
    »Also gut«, sagte er. »Ruf Wissmann an.«

MÜLLER,
    eigene Aufzeichnungen, 2008
    Solange meine Mutter lebte, stand auf ihrem Wohnzimmerbuffet ein Foto von mir. In schwarzweiß. Es stand so lange dort, dass ich es jahrelang nicht mehr wahrnahm. Erst als sie vor ein paar Jahren starb, nahm ich es herunter und schaute es noch einmal an, bevor ich es in eine Kiste packte. Ich musste lächeln. Rolfi mit zehn oder zwölf Jahren, von Paco war noch keine Rede. Ich habe den lächerlichen, eckigen Haarschnitt, den ich meine ganze Kindheit lang nicht loswurde. Meine Mutter schnitt regelmäßig meine Haare mit der großen Schneiderschere. Ich fand mich mit meinem Aussehen ohne Murren ab. Mein privilegierter älterer Bruder wurde alle paar Wochen zum Friseur gebracht, aber ich empfand das nicht als Bevorzugung. Er heulte immer, bevor es losging, weil ihm ein Onkel einmal gesagt hatte, seine Haare könnten plötzlich anfangen zu leben und beim Schneiden weh tun. Außerdem hatte er hinterher tagelang einen geröteten Hals, so empfindlich war er gegen die kleinen Härchen, die in seinen Kragen fielen. Horst, zwei Jahre älter als ich, war das Musterkind. Er brachte stets glänzende Zeugnisse mit nach Hause, rechnete mühelos und las schon als Grundschüler in der Zeitung. Ich kam gerade so durch, ohne unangenehm aufzufallen. Nur in einem einzigen Schulfach war ich besser als er, doch diese eine Note entschied alles: im Sport. Ihm fuhren die Lehrer durchs Haar. Ich hatte das höchste Ansehen in meiner Klasse.
    Auf dem Foto habe ich kurze Hosen an mit elastischen Hosenträgern, die man verstellen konnte. Sie sind am Hosenbund festgeklemmt. Die Hose ist ein

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