Schlagmann
bezeichnen willst.«
»Was?«
»Seit ich nicht mehr rudere, bin ich allein. Ihr seid alle wech.«
»Ausgerechnet du sagst das, Arne, der Typ, der sich nie um andere gekümmert und nie ein Wort gesagt hat.«
Arne schwieg.
»Hast du dich untersuchen lassen?«
»Ja.«
»Und?«
»Nichts. Physisch ist alles in Ordnung. Bis auf die Kreislaufschwäche.«
Ich sah ihn an. »Arne. Du isst nichts. Das kannst du nicht leugnen, so wie du aussiehst. Ich glaube, du bist magersüchtig. Du musst dir helfen lassen.«
Arne reagierte nicht etwa ertappt. Es schien ihm klar zu sein, dass er an einer Störung litt. Er wirkte nachdenklich und kratzte sich durch den Ärmel seines Pullovers den Unterarm. Es war eine merkwürdige Bewegung, gleichzeitig zwanghaft und vorsichtig. Etwas darunter schien ihm weh zu tun, aber auch zu jucken. Wie der Heilungsschmerz bei Schürfwunden, dachte ich kurz. Gleich darauf schien er einen Entschluss zu fassen, schob den gleichen Ärmel ein paar Zentimeter hoch, mit ihm auch den Ärmel seines Trikots, und ich sah die Schnitte. Alte und neue, quer über Handgelenk und Unterarm, nicht tief, aber zum Teil entzündet.
Ich sog vor Schreck hörbar Luft durch die Zähne. Er zog die beiden Ärmel sofort wieder darüber und schüttelte beschwichtigend den Kopf.
Ich riss mich zusammen, jede Form von Druck und Stress wäre kontraproduktiv gewesen. Ich hielt den Atem an und saß da wie eine gespannte Feder.
»Arne«, sagte ich schließlich und hörte selbst, wie gepresst das klang. »Das muss versorgt werden. Du wirst dir eine Blutvergiftung zuziehen.«
Er ging nicht darauf ein. Stattdessen sagte er: »Rasierklingen.« Und nach einer Pause, in der er wieder die Arme um seinen Oberkörper und die Hände in die Achselhöhlen presste: »Manchmal brenne ich mich auch mit Zigaretten.«
Er senkte den Kopf.
Plötzlich wurde mir klar, dass die Wunden an seinemSchienbein, die ich vor langer Zeit gesehen hatte, die gleiche Ursache gehabt hatten.
»Ich Vollidiot«, murmelte ich.
Arne sah mich fragend an. Seine blauen Augen wirkten wässrig und verhangen, sie lagen in scharf umrandeten Höhlen. Ich arbeitete zur jener Zeit auf der Abteilung für innere Medizin und hatte vor, eines Tages meinen Facharzt für Lungenheilkunde zu machen. Aber eins wusste ich: Arne war in Gefahr. Wenn er so weitermachte, war irgendwann Schluss mit ihm. Doch endlich hatte er ausgesprochen, was unaussprechlich schien. Ich fühlte mich in der Pflicht. Dann glaubte ich plötzlich, die Lösung gefunden zu haben.
»Erinnerst du dich an Dr. Wissmann, meinen Entdecker und Vereinspräsidenten? Der ist doch Psychiater und Ruderer, das müsste passen. Ich nehme an, er hat immer noch seine Praxis, nicht weit von hier. Willst du dich nicht an ihn wenden? Ich werde einen Termin für dich vereinbaren.«
Ich wurde immer munterer, weil ich glaubte, das könnte die Lösung sein, aber die Wirkung war schwach. Es war der übliche Rat eines Mediziners: Geh zum Facharzt. Ganz offensichtlich ging der Schuss daneben.
Ich schlug vor, ihn mit nach Hause zu nehmen, um ihm meinen Sohn zeigen.
»Der lacht dich an mit seinen Apfelbäckchen«, sagte ich zu ihm und zwang mir selbst ein Lächeln ins Gesicht. »Da schmilzt du dahin.« Alles konnte noch gut werden.
Arne ging auf meinen Vorschlag nicht ein. Ich wollte ihn gerade wiederholen, als er zögernd weitersprach.
»Ich habe mir ein Buch gekauft«, sagte er langsam. »Darin heißt es, für solche Störungen gibt es Gründe.«
Er suchte also selbst nach einem Ausweg.
»Du brauchst eine Therapie.«
Arne drückte wieder seine Ellbogen an sich.
»Das geht nicht. Meine Eltern können doch nichts dafür. Ich will sie nicht hineinziehen. Meine Mutter würde durchdrehen.«
Was ich schon immer wissen wollte und mich nicht zu fragen traute: wieso Arne nie über sein Zuhause redete.
»Deine Eltern? Sei ehrlich: Was haben sie dir angetan?«
Er wandte sich abrupt ab und lehnte seine Stirn gegen das Treppengeländer. Ich war entschlossen, jetzt nicht lockerzulassen.
»Du musst kämpfen, Arne. Was du tust, ist lebensgefährlich. Wenn es Leichen bei euch im Keller gibt …«
»Es gibt keine Leichen im Keller«, sagte er schnell. »Ich erinnere mich an nichts.«
»Umso besser …«, sagte ich vorsichtig.
»Es ist schließlich so«, sagte er. »Ich schneide mich nicht aus Langeweile. Ich muss das tun. Ich kann nicht anders. Weil ich sonst verrecke.«
Er öffnete mit einem scharfen Geräusch den Reißverschluss
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