Schlagmann
auf. Auch das Fußballspielen gab ich auf und fing an zu rauchen. Ich hatte meinen Oberschenkel ruiniert. Aber wenn ich könnte, würde ich es noch einmal genauso machen.
Heute bin ich ein Athlet, der keinen Sport betreibt.
Ich sitze auf dem Teppichboden meines Arbeitszimmers und wische mir den Schweiß von der Stirn. Ich habe bereits überall gesucht, aber ich finde mein Kinderbild mit dem Fußball nicht mehr. Etwas Düsteres ist auf mich übergesprungen, und ich habe gehofft, die Erinnerung an die Gewissheiten von damals könnte mich davon befreien. Die Geschichte von Arne Hansen beunruhigt mich. Ich komme einfach nicht auf den Punkt. Habe ich mich mein Leben lang getäuscht? Sind Leistungssportler krank?
Ich blättere wieder in meinen alten Ordnern. Da steht esdoch. Ich habe viele von ihnen aus der Nähe gesehen, und ich habe sie immer für Helden gehalten.
Plötzlich frage ich mich, wieso ich eine Gewaltszene im Kino kaum ertragen kann, obwohl ich genau weiß, dass ich nur einen Film sehe. Aber Boxkämpfe schaue ich mir stundenlang live an. Ungerührt. Und berichte, wie einer nach zahllosen Kopftreffern auf die Bretter fällt. Und preise ihn, weil er schon angezählt wurde, nicht verlieren kann und wieder aufsteht, nur um noch mehr Prügel einzustecken. Das
»comeback to fight«
, das Weitermachen auf verlorenem Boden, habe ich immer grenzenlos bewundert. Ein Boxer, der einen Schlag einsteckt, sich kurz schüttelt, um den Kopf wieder klar zu kriegen, rechtzeitig bevor der Gegner den nächsten Haken setzt – so sehe ich mich selbst. Weiter, hochschauen, weiter, hochschauen, weiter.
Die Begründung ist mir auf dem Weg bis hierher verlorengegangen. Ich habe stundenlang gegraben in meinen alten Texten. Gefunden habe ich eine breite Spur von Leiden und Schmerz. Einer nach dem anderen steigen sie aus den Zeitungsseiten hervor, meine Götter, die Sieger, denen ich gehuldigt habe, doch sie strahlen nicht mehr. Ihre Siegerkränze sind blass und ihre Medaillen blind geworden, sie winken mit Krücken und tragen schmutzige Verbände. Hansen hat sein Leben versaut. Vielleicht ist er kein guter Umgang für mich. Nicht einmal in der Erinnerung. Er verändert mich und saugt mich in sein schwarzes Loch.
Ich sage mir, es gibt viele Weisen, die Dinge zu sehen. Und es kann keine Strafe darauf stehen, Spitzenleistungen gut zu finden. Ich denke an die vielen Fußballspieler, die berühmte Tore schossen oder Strafstöße hielten und unsterbliche Ikonen ihrer Länder wurden. Da ist nur plötzlich dieses ständige »Ja, aber«, das mich umtreibt. Die Frage nach denen, die gescheitert sind, natürlich. Die ihre Droge nie bekamen, sondern körperlich oderseelisch den Druck nicht aushielten. Alles verschiebt sich, und ich blättere in meinem eigenen Leben auf der Suche nach Halt.
Ich habe geschrieben über den Radrennfahrer, der eine geschwollene Unterlippe hatte, nicht etwa, weil er so geboren wurde. Er hat sie sich in seinen zermürbenden Kämpfen zerbissen – als Gegenreiz zu den Schmerzen in den Beinen. Ich habe versucht, das Leben auf den großen Rundfahrten zu beschreiben. Sie buckeln wie die Sklaven, habe ich bilderreich erklärt, wie knurrende Hunde, die ihrem eigenen Kodex folgen, nach dem jeder irgendwann für sich allein kämpfen muss. Und nach dem jeder eines Tages von der Meute zerrissen wird. Ich lese das und sage mir: Was bist du nur für ein Fetischist geworden. Was für ein Blut-und-Boden-Poet! Aber andere Worte habe ich dafür nicht.
Die Radsportler reden nicht gern über den alltäglichen Horror. Darüber, wie sich ihr Hintern nach den endlosen Tagen im Sattel in rohes Fleisch verwandelt, davon, wie ihnen die Erschöpfung den Magen herumdreht, von Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, vom grausamen Schmerz in ihrer überlasteten Muskulatur, von der Angst vor Stürzen und Verletzungen.
Vielleicht werde ich langsam genauso verrückt wie Hansen. Ich hole einen Ordner nach dem anderen aus meinem Regal und suche nach einer einzigen brauchbaren Aussage, nach einem einzigen triftigen Grund, warum ein Leistungssportler all dies auf sich nimmt, hier, im Land der Satten.
Ich habe die kleinen Mädchen beschrieben, die »spielerisch« an die Rhythmische Sportgymnastik herangeführt werden, mit drei, vier Jahren, und für die, wenn sie sich als begabt erweisen, plötzlich die Quäl-Falle zuschnappt. Man verbiegt sie wie Drahtpuppen, ihre Körper und ihre Seelen. Entlang der Schmerzgrenze, so nennen das die Trainer, wird ihre
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