Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlagmann

Schlagmann

Titel: Schlagmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evi Simeoni
Vom Netzwerk:
hatte.
    »Wollen Sie damit sagen, man muss Arne als Zombie sehen?«
    Wissmann fixierte mich mit einem arroganten Lächeln, über das ich mich viel mehr ärgerte, als ich wollte.
    »In Ihrer Welt drückt man das vielleicht so aus. Wir sehen einen Menschen, der keine Chance hat, sich zu entfalten.«
    Ich ärgerte mich über die Gelassenheit des Doktors.
    »Nun sagen Sie schon«, insistierte ich. »Was haben Arnes Eltern mit ihm gemacht?«
    Wissmann seufzte.
    »Wir sind alle Gottes Kinder. Wir sind alle Opfer. Und wir sind alle Täter.«
    »O.k.«, sagte ich. »Wenn Sie sagen, Arne wollte nichts mehr fühlen – warum hat er dann so hart trainiert? Warum hat er sich selbst verletzt?«
    »Ja«, sagte Wissmann. »Eine interessante Frage. Im Schmerz kann man sich spüren – wenn man sich schon nicht fühlen kann.«
    Ich fixierte die beiden Päckchen Papiertaschentücher vor mir, hob den Blick und sah auf die vor sich hin welkenden Pflanzen. Meine Erleichterung war weg, ich fühlte plötzlich eine tiefe Erschöpfung.
    »Tut mir leid«, sagte ich und konnte ein schweres Schluckennicht verbergen. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich habe immer versucht, mit ihm zu fühlen.«
    Wissmann lächelte zum ersten Mal richtig, und ich sah endlich seine Zähne, sie waren klein und nach hinten gebogen.
    »Wo kein Gefühl ist«, sagte er, »da ist auch kein Mitgefühl möglich.«
    Ich schluckte wieder.
    »Ich kann mir vorstellen, wie sehr es Sie erschüttert, wenn in einem gesunden, schönen Körper eine so kranke Persönlichkeit wohnt«, sagte Wissmann. »Das widerspricht den olympischen Idealen, nicht wahr?«
    Ich nickte, aber ich wusste, dass das nur ein Teil der Wahrheit war.
    »Außerdem ist es natürlich nicht leicht, seine eigene Ohnmacht zu erkennen.«
    Ich nickte wieder.
    »Hansen hat seine Störung kompensieren können, solange er ruderte. Er hat sein Maschinenleben sinnvoll einsetzen können. Erst als das aufhörte, war wirklich nichts mehr.«
    Ich notierte: Maschinenleben.
    »Dass Hansen sich die Krankheit nicht durch Leistungssport erworben hat, kann man schon daran erkennen, dass sein Bruder auch anorektische Phasen hatte.«
    Ich packte meinen Stift fester.
    »Was?«
    »Ach«, sagte Wissmann, »ich dachte, das wäre Ihnen bekannt.« Auf einmal wirkte er ein wenig unsicher, brachte seine Körpersprache aber sofort wieder unter Kontrolle. »Nun denn, dann habe ich Ihnen doch noch ein Geheimnis verraten. Aber mehr werde ich dazu nicht sagen.«
    Ich hätte gerne nachgehakt, aber ich wusste, es wäre sinnlos gewesen. Also erklärte ich Wissmann, dass ich schon seit Monatenregelmäßig Interviews mit Hansens Ex-Freundin und seinem ehemaligen Trainingspartner führte.
    »Wir haben unzählige Stunden über ihn gesprochen. Wir reden wie die Besessenen und werden nicht fertig damit. Warum nur?«
    Wissmann lächelte noch einmal, diesmal lächelten sogar seine Karpfenaugen mit.
    »Ich nehme stark an, dass es bei ihm irgendwann kaum mehr ein Ich gab, das eigenverantwortlich etwas getan hat. Er hat die Dinge mit sich geschehen lassen und ist dabei immer weniger geworden. Sie haben seine Persönlichkeit vielleicht nie gesehen. Was Sie in ihm gesehen haben, das ist nicht er. Das sind Sie selbst.«
    »Wir haben uns selbst in ihm gesehen? Wie meinen Sie das?«
    Wissmann nahm den Aschenbecher und leerte meine beiden Zigarettenkippen in einen Mülleimer neben seinen Füßen. Er nahm seine Uhr von der Schreibunterlage und befestigte sie wieder an seinem linken Handgelenk.
    »Sie haben in ihn hineingeschaut wie in einen Spiegel. Da war nichts. Er hatte sich aufgelöst. Alles, was Sie in einem solchen Menschen sehen, sind Ihre eigenen Vorstellungen.«
    Er stand auf und streckte mir seine Hand entgegen. Auch ich erhob mich von meinem Stuhl und schüttelte sie. Er schaute noch einmal demonstrativ auf seine Uhr.
    »Sie entschuldigen mich, in wenigen Minuten kommt mein nächster Patient.«
    Ich drehte mich um und ging, während Wissmann hinter seinem Schreibtisch stehen blieb. An der Tür fühlte ich plötzlich seinen scharfen Blick in meinem Rücken und stolperte über die Schwelle, konnte mich aber mit einem raschen Schritt nach vorne abfangen.
    »Hoppla«, sagte Wissmann.
    Beim Hinausgehen sah ich im Wartezimmer einen völlig normal aussehenden Mann in einem grauen Anzug sitzen.
    Wenn Wissmann recht hatte, dann hatten wir nicht über Arne gesprochen, sondern über uns selbst. Wir hatten versucht, Arne zu beschreiben und dabei

Weitere Kostenlose Bücher